Eurovision Song Contest:Tagebuch des Wahnsinns

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Wir haben es geschafft. Wir dürfen den Eurovision Song Contest ausrichten. Seit Tagen fiebert Düsseldorf dem Finale entgegen. Das wird groß. Ganz groß.

Hans Hoff

Kampf um die European Sound Contest (ESC) - das Rennen ist noch offen, doch ein erster Platz für Deutschland wäre eine Überraschung. Beim Wettberwerb in Düsseldorf wollen Künstler aus 24 Nationen Lena beerben. Das einstige "Fräuleinwunder" tritt mit einer ordentlichen Nummer an, doch für Glamour sorgen andere. So sah der Endspurt zum großen Finale aus.

Lena Meyer-Landrut ist überall: Auf der Maske, hinter der Maske, auf der Pressekonferenz, hinter der Bühne, auf der Bühne. (Foto: dapd)

Samstag 7. Mai

Vorgestern hat Lena Blümchen an Passanten verteilt. Heute sind die Journalisten dran. Es gibt Kuchen für alle, und mancher beim Eurovision Song Contest akkreditierte Journalist wird sich in den nächsten Tagen wehmütig an die zurückliegenden Probentage der ersten ESC-Woche erinnern, als Lena noch nicht überall herumgeisterte.

Ab sofort gilt das Hase- und Igel-Prinzip. Wo immer die Medienmeute auch ankommt, Lena ist schon da und sondert Sprüche aus dem Handbuch für kecke Kirchentagsbesucher ab. Nicht immer ist das schön. Aber es wird sich noch zeigen, dass man sich an vieles gewöhnt, auch an Schlimmes.

In der Düsseldorfer Arena starten am Nachmittag die Big Five ihre Proben, also jene Länder, die den ESC maßgeblich finanzieren. Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien müssen sich nicht fürs Finale qualifizieren. Bevor Lena probt, kommt am Nachmittag die britische Band Blue auf die Bühne. Die vier Herren waren Anfang des Jahrtausends einmal das, was man mal als erfolgreiche Boygroup bezeichnete. Danach haben sie nach offizieller Lesart eine kreative Pause eingelegt, was die Umschreibung für "keinen Erfolg mehr haben" ist. Ihr ESC-Beitrag ist ein scheppernder 08/15-Popsong, in dem sie immer wieder "I can" behaupten. Der Behauptung muss angesichts des akustischen Desasters dringend und laut widersprochen werden. Blue versuchen große Posen, aber sie wirken nur wie ein paar Möbelpacker, die jemand auf die Bühne bestellt und nicht abgeholt hat.

Am Abend lädt der Oberbürgermeister zum Empfang in die Düsseldorfer Tonhalle. Alle 43 Delegationen müssen über einen mindestens 200 Meter langen roten Teppich. An dem verlieren sich auf der einen Seite des Teppichs vielleicht 300 Zuschauer. Auf der anderen Seite lauern dafür gefühlte 30 Kamerateams, und jeder der Kandidaten muss bei jeder Kamera und jedem Mikrofon haltmachen und bekommt total witzige Fragen von total witzigen Reportern gestellt. Das ist im Regelfall wenig schön, weil hinter manchem Mikrofon auch Sonya Kraus lauern kann. Da dauert so ein Gang über die Auslegeware leicht mal ein Stündchen. Für 15 Normalzuschauer zu lange, denn die bekommen von einigen Scheinwerfern so viel Licht mit, dass sie sich in der Folge wegen leichter Verbrennungen ins Krankenhaus begeben müssen.

Neben den ESC packt Düsseldorf schnell noch einen Marathon, eine Großmesse und eine Frühlingskirmes. Nur dass niemand auf die Idee kommt, im düsseligen Dorf sei sonst nix los. Los ist auf jeden Fall Lena, die in der Arena zum zweiten Mal probt und wenigstens für diese Zeit weg von der Straße ist. Schüchterne Versuche, im Pressezentrum die magere Qualität der meisten ESC-Beiträge zu diskutieren, enden in der Regel mit der empörten Antwort, dass man aber nun mal so was von gar keine Ahnung habe.

Hunderte Journalisten aus fast allen europäischen Ländern und der Welt, fachsimpelnde Kommentatoren und harte Nachfragen bei den Pressekonferenzen: Auf den ersten Blick könnte man den Grand Prix mit einem EU-Gipfel verwechseln. Alistair Birch, Radiojournalist aus Australien, berichtet aus Düsseldorf nach down under. (Foto: dpa)

Hofft man dann wenigstens auf das Eingeständnis, dass zumindest der Blue-Titel "I Can" doch Komplettschrott ist, folgt als Replik eine Lobeshymne auf das Aussehen der Briten. Die von einem taz-Kolumnisten aufgestellte These, Lena habe den ESC "entschwult", kann dementsprechend nicht verifiziert werden. Über 2000 Medienvertreter haben sich akkreditiert. Gefühlte 90 Prozent der Berichterstatter sind Männer. Nach wie vor wirkt der ESC ein wenig wie der Kirchentag für die schwule Journalistengemeinde.

Stefan Raab versucht auf einer Pressekonferenz seine Mitmoderatorin Judith Rakers zu ärgern. "She's scared", sagt er mehrfach über die Tagesschau-Sprecherin, und die weiß nicht so recht, wie sie gucken soll. Raab dagegen grinst und macht sich auch noch über das Aussehen von Medienvertretern lustig. Als ein Reporter von Antenne Unna eine Frage stellt, rotzt Raab das, was er für Witz hält, in den Saal: "Ich wusste gar nicht, dass es in Unna schon Antennen gibt."

Später muss Lena in die ARD-Sendung "Unsere Show für Deutschland". Die wird zum Auftakt der ESC-Woche vom "Wetten, dass..?"-Erfinder Frank Elstner moderiert. Der hat offenbar von der "Wetten, dass.. ?"-Premiere, die 1981 auch in Düsseldorf über die Bühne ging, noch ein paar Fragen übrig behalten, die er nun bei Lena ablädt. Die kann mit der Strickjackigkeit des TV-Dinos so gar nichts anfangen. Vor allem aber nicht mit dessen enormer Fehlerquote. Statt Eurovision sagt Elstner European. Lena verbessert. Elstner sagt, die Arena sei mal ein Fußballstadion gewesen. Lena verbessert: "Ist sie immer noch." Elstner wirkt wie aus der Mottenkiste gezogen. Eine Sternstunde für alle Seminare, in denen man zeigen möchte, wie alte und neue Fernsehwelt kollidieren.

Am Abend singt Lena auf ihrer "Twelve Points"-Party. Sie hat die Delegationen jener Länder eingeladen, von denen sie 2010 zwölf Punkte bekam. Leider hat sie niemanden sonst eingeladen. Keine Fans. So filmen sich die zahlreichen Kamerateams kurzerhand gegenseitig, die Reporter stellen einander Fragen, und die einen Künstler singen für die anderen Künstler. Die Stimmung gleicht der in einer x-beliebigen Bahnhofsvorhalle.

Der frühere "Zimmer frei"-Reporter Manes Meckenstock hat für das erste Halbfinale zum Public Viewing geladen. In Düsseldorfs schönstem Park, dem Volksgarten, betreibt er eine Gaststätte, in der noch vor wenigen Tagen die Künstler aus Weißrussland und Mazedonien persönlich ihre Beiträge in einen rappelvollen Saal voller wild tanzender Menschen schmetterten.

Doch an diesem Abend hockt gerade mal ein Dutzend Zuschauer vor der großen Leinwand und erlebt mit, wie Anke Engelke, Judith Rakers und Stefan Raab als Moderationstrio scheitern. Abseits von Arena und Altstadt ist nur selten etwas zu spüren von dem im Rathaus immer wieder behaupteten ESC-Fieber. "Beim Finale wird es aber rappelvoll", verspricht der leicht traurige Hausherr beim Abschied. Als daheim der Fernseher angeht, ist natürlich Lena zu hören.

Die Big Five haben mittags zur Schiffstour auf dem Rhein geladen. Wieder treffen sich dieselben Kamerateams wie am Montag, dieselben Reporter, nur ein paar Musiker sind andere. Blue sind auch da. Sie singen "I can". Lena singt und spricht in jede Kamera, in jedes Mikrofon. Die anderen auch. Alle geben sich betont spontan und loben einander vor den Kameras pausenlos. Das soll sie sympathisch rüberkommen lassen und bringt möglicherweise Punkte bei der Telefonabstimmung am Samstag.

Irgendwann müssen dann alle den Monty-Python-Song "Bright Side Of Life" singen. Zum Vollplayback. Die Fotografen und Kameraleute sind trotzdem wie wild auf die alberne Aktion und rempeln sich gegenseitig nieder. Kollateralopfer wird Lena, die eine Kamera gegen den Kopf bekommt. Der Schreck ist indes größer als der bleibende Schaden.

Kurz nach der Landung steht in der Arena wieder das Moderatoren-Trio zum "Dress Rehearsel" vor den Probekameras. Jedes Wort lesen die drei von Bildschirmen ab. Jedes. Und nicht nur das. Auch die Gesten sind vorgeschrieben. Für Judith Rakers steht da vorsichtshalber: "Hello everybody (winken)."

In der Jazz Schmiede tritt Raphael Gualazzi mit seiner Band auf. Der Italiener inszeniert sich als leicht beschwipste Mixversion von Paolo Conte und Tom Waits, was im ESC-Umfeld eher außergewöhnlich wirkt. Knapp 120 Gäste sind da. Kaum Fans. Irgendwann ruft Gualazzi "seine Freunde" auf die Bühne. Es sind wieder Blue. Sie singen "I can", und zur Pianobegleitung des Italieners hat das was. Klingt nicht so schlecht, kann man sich merken. Ein langjähriger Beobachter erklärt, dass die Abneigung gegen ESC-Lieder während der zwei Vorbereitungswochen sehr oft einer gewissen Sympathie, manchmal sogar einer Euphorie weiche. Es sei halt wie beim Stockholm-Syndrom, wo nach einer gewissen Zeit Geiseln und Geiselnehmer auch Freunde werden.

Frank Plasberg moderiert die ESC-Vorabendsendung aus der Arena, was ein bisschen die Not der ARD in Unterhaltungsfragen verdeutlicht. Immerhin noch besser, als wenn Frank Elstner zum zweiten Einsatz käme. Lena singt ausnahmsweise nur im Einspielfilm mit den Puppen Ernie und Bert. Doch während des Films stürmt die echte Lena kurz ins Studio, um einen jugendlichen Fan zu begrüßen. Lena überall. Abends verliert Stefan Raab im zweiten Halbfinale ein paar seiner Zähne, als ihm als Dank für schlechte Scherze Anke Engelke einen Hit der besonderen Art verpasst. Ist aber alles nur vorgetäuscht. Manche sagen: Leider.

"I can": Die britische Boyband Blue  -ganz in blau. Schönes Lied. (Foto: AP)

Nachmittags läuft noch eine Generalprobe mit den 25 Finalisten, abends geht dann das sogenannte Jury-Finale über die Bühne. Im Fernsehen ist es nicht zu sehen, aber aufgezeichnet wird es trotzdem. Als Bildreserve, falls am Samstag was schiefgeht. Außerdem bewerten in 43 Ländern die Fachjurys die Beiträge. Mein Geheimfavorit: Blue mit "I can". Schönes Lied.

© SZ vom 14.05.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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