Zukunft der Arbeit:Mehr Mensch

Lesezeit: 5 min

Die christliche Sozialethik hat eine unvergleichliche Stärke: Sie kann der globalisierten Wirtschaft eine globale Ethik zur Seite stellen

Matthias Drobinski

Die Welt schien aus den Fugen geraten zu sein. Millionen Menschen verließen ihre Dörfer. Sie zogen in die Städte, dorthin, wo die großen Fabriken standen, wo Kohlegruben sich in die Erde fraßen und das Meer der Mietskasernen das Ackerland überflutete. Sie arbeiteten am Tag und in der Nacht, sie atmeten Staub, bis sie Blut spuckten, in Lärm und Hitze. Der Lohn der Proles war gering, die Nachkommen waren das einzige Kapital dieser neuen Stadtmenschen, viele Kinder in zu engen Wohnungen, wo die Erwachsenen den Schmerz und die Monotonie des Tages mit Alkohol betäubten und die Gewalt am Küchentisch saß. Immer mehr Arbeiter glaubten, erst der Umsturz und die Enteignung der Fabrikanten würden ein neues Leben in Gerechtigkeit schaffen. Konnte dies Gottes Wille sein?

Es konnte Gottes Wille nicht sein, davon war Papst Leo XIII. überzeugt. Die Menschen sollten ihren natürlichen Platz im Leben haben. Sie sollten in ihren Familien leben, geleitet von der Lehre der katholischen Kirche - und nicht entwurzelt in der Anonymität der sittenlosen Großstadt. Sie sollten Wert und Würde aus einer Arbeit ziehen, die sie nicht krank macht, sollten für gute Arbeit fairen Lohn erhalten. Aber sich auch nicht auflehnen gegen die Obrigkeit. Und schon gar keinen Sozialismus wollen.

Ein antimodernes Weltbild leitete Papst Leo, als er 1891 das Rundschreiben "Rerum Novarum" verfasste, die erste katholische Sozialenzyklika. Damit die Schöpfung nicht aus den Fugen gerät, trat er für einen Ausgleich zwischen Arbeit und Kapital ein - und für die Würde des Arbeiters und seiner Arbeit. Es gehe nicht an, schrieb der Papst, dass hartherzige Arbeitgeber die Menschen "nicht wie Menschen, sondern als Sachen behandeln".

Die Arbeit ist für Papst Leo mehr als Gelderwerb. Sie ist Teil des Menschseins. Aus dem gleichen Grund hatte schon ein halbes Jahrhundert zuvor der evangelische Sozialreformer Johann Hinrich Wichern den Wert der Arbeit in seinem "Rauhen Haus" gepriesen: Sie "wurde der erste Ableiter der rohen Kräfte und führte bei den meisten dahin, dass die rohen verwüstenden Kräfte in heilsame verwandelt wurden." Die Arbeit erhebt den Menschen über das Tier.

Von Beginn an hatte im Christentum die Arbeit auch eine religiöse Dimension (obwohl Jesus den Berichten der Evangelisten zufolge keiner geregelten Erwerbsarbeit nachgegangen war). Die Arbeit erinnerte daran, dass das Paradies verloren war und der Schweiß im Angesicht zum Los des Menschen gehört. Sie verband die Gemeinschaft der aus dem Paradies Vertriebenen: "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen", heißt es beim Apostel Paulus, und es ist kein Zufall, dass der gleiche Satz auch bei Karl Marx steht: Arbeit ordnet ein in die Gemeinschaft, sie ist notwendig, um ins himmlische oder irdische Paradies zu gelangen. Faulheitsbewegungen waren den Christen wie den Sozialisten von jeher fremd. Ora et labora! Bete und arbeite! Das schrieb Benedikt von Nursia in die Regel seines Ordens - betend und arbeitend machten die Benediktiner Europa nach der Völkerwanderung wieder urbar. Im 16. Jahrhundert predigte der Reformator Johannes Calvin: Im Erfolg zeigt sich, ob jemand Gnade vor Gott gefunden hat. Er begründete jene calvinistische Arbeitsethik, in der Max Weber, der Soziologe, den Ursprung des Kapitalismus sah.

Berufe mit Zukunft
:Karriere, wir kommen

Jeder will einen guten Job - auch in wirtschaftlich schlechten Zeiten. Doch wer in Zukunft eine feste Stelle sucht, sollte die richtige Ausbildung haben. Zehn Berufsfelder mit Perspektive.

Die Industrialisierung zerstörte das Bild von der geordneten Arbeit in einer geordneten Welt. Schon immer war dies ein Idealbild gewesen; es blendete die Mühsal der vorindustriellen Wirtschaft aus, die auf die Hungerkrisen der frühen Neuzeit keine Antwort hatte - und manchmal war es auch ein furchtbares Zerrbild, das auch dazu führte, dass den Juden die angeblich ehrbaren Handwerksberufe verboten wurden. Doch was im 19. Jahrhundert geschah, war tatsächlich neu: die Verdichtung der Arbeit in Fabriken, ihre Zerteilung in kleine Produktionsschritte, die Spaltung in wenige Kapitalbesitzer und viele, die nichts hatten als ihre Arbeitskraft. Marxisten und christliche Sozialethiker fanden denselben Begriff für diesen Prozess - Entfremdung. Für die Marxisten bedeutete das: Der Arbeiter schuftet für das Kapital der anderen. Für Christen hieß es, dass sich die Arbeit ihres Sinns beraubte, ihrer anthropologischen, ethischen und moralischen Dimension.

Gegen die Entfremdung und für den Sinn der Arbeit - das ist seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert der Kern der katholischen Soziallehre und der evangelischen Sozialethik. Zunächst traten die Kirchen und ihre Arbeitervereine für bessere Arbeitsbedingungen ein, für den Schutz der Sonn- und Feiertage und für einen gerechten Lohn: Auch die Arbeiter sollten Privateigentum bilden können. Bis heute gehört der sogenannte Investivlohn zu den Forderungen katholischer Sozial-Erklärungen: Mit einem Teil des Lohns erwerben die Arbeitnehmer Anteile an dem Unternehmen, für das sie arbeiten. Die Massenarbeitslosigkeit in Europa und den USA als Folge der Weltwirtschaftskrise von 1929 rückte die Frage nach einem Recht auf Arbeit ins Zentrum. Erwerbsarbeit gehört zum Menschsein, schrieb Papst Pius XI. 1931 in seiner Sozialenzyklika "Quadragesimo Anno", 40 Jahre nach "Rerum Novarum", deshalb dürfen Kapitalinteressen nicht darauf abzielen, dass Menschen massenhaft von der Erwerbsarbeit ausgeschlossen werden.

Die Arbeit steht vor dem Kapital - keiner hat den Gedanken so klar formuliert wie Papst Johannes Paul II. in seinem Rundschreiben "Laborem exercens" von 1981. Die Enzyklika spiritualisiert in höchstem Maß den Wert der Arbeit: "Die Arbeit ist ein Gut für den Menschen - für sein Menschsein -, weil er durch die Arbeit nicht nur die Natur umwandelt und seinen Bedürfnissen anpasst, sondern auch sich selbst als Mensch verwirklicht, ja gewissermaßen 'mehr Mensch wird'". Der Gedanke prägt die Haltung der Kirchen zur Arbeit, zum Beispiel im gemeinsamen Sozialwort der Kirchen in Deutschland von 1997: "Aus christlicher Sicht ist das Menschenrecht auf Arbeit unmittelbarer Ausdruck der Menschenwürde. Der Mensch ist für ein tätiges Leben geschaffen."

Doch: Die Arbeit hat sich gewandelt. Den Arbeiter am Fließband gibt es immer seltener. Die Arbeitswelt hat sich vielmehr gespalten. Es gibt die hochqualifizierten, flexibel arbeitenden Menschen, die immer mehr leisten müssen. Und es gibt die hoffnungslos schlecht qualifizierten Menschen und solche in prekären Arbeitsverhältnissen, die sich in der Grauzone zwischen Arbeitslosigkeit und Beschäftigung ein Leben lang von Job zu Job hangeln; auch Studierte sind unter ihnen. Es gibt Frauen, die allzu gern eine qualifizierte Arbeit hätten, fänden sie nur eine Kinderbetreuung - und Menschen, die bewusst ihre Arbeitszeit reduzieren; Rentner, die fit genug sind, um sich sozial zu engagieren. Es verschwinden die lebenslangen, gesicherten Arbeitsverhältnisse, auf die sich die christliche Lehre bezieht. Der Arbeitsmarkt ist global geworden - was zählt da noch die Rede von der Würde der Arbeit?

Wieder einmal gibt es Res Nova, neue Dinge. Wie vor 120 Jahren, als Papst Leo zur Feder griff, droht die Arbeitswelt aus den Fugen zu geraten. Wer arbeitet, muss sich der weltweiten Konkurrenz stellen und einer entgrenzten Flexibilisierung unterwerfen, sich weiterbilden, um mithalten zu können. Strukturen der Solidarität werden schwach und verschwinden, weil die Arbeit sich individualisiert, und Gewerkschaften auch nur mäßig befriedigende Antworten haben. Papst Benedikt XVI. hat in seiner ersten Sozialenzyklika "Caritas in veritate" (Die Liebe in der Wahrheit) dies angesprochen, ohne tatsächlich die erste Globalisierungs-Enzyklika der katholischen Kirche zu schreiben; auch die evangelischen Erklärungen haben das noch nicht geschafft.

Dabei hat die christliche Sozialethik eine unvergleichliche Stärke: Das weltweite Christentum kann der globalisierten Wirtschaft eine globale Ethik zur Seite stellen. Sie kann die Würde des Einzelnen einfordern, wenn es um den gerechten Lohn, um gute Arbeitsbedingungen, um den Rhythmus von Arbeit und Ruhe geht. Sie kann die Solidarität dort fördern, wo der flexibel-individuelle Arbeitnehmer glaubt, er stünde alleine da - und die weltweite Solidarität der Arbeitenden in den armen und den reichen Ländern. Und sie kann, wo auch immer, erklären: Arbeit ist mehr als Broterwerb, sie ist Teil des Menschseins, des Lebenssinns. Deshalb kann nicht egal sein, was und wie der Mensch arbeitet. Die alten, konservativen Gedanken des dreizehnten Leo-Papstes: Sie klingen heute sehr modern, geradezu postmodern.

© SZ vom 07.06.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: