Atomkatastrophe in Fukushima:Super-GAU schon nach fünf Stunden

Doppelt so viel Radioaktivität und eine deutlich frühere Kernschmelze: Japan muss eingestehen, dass die Nuklearkatastrophe in Fukushima schlimmer ist als anfangs eingeräumt. Wurde bewusst verharmlost, um die Sicherheitsmängel anderer AKWs zu verschweigen?

Christoph Neidhart, Tokio

Auch drei Monate nach dem Erdbeben vom 11. März hat Japan das Kernkraftwerk Fukushima-1 nicht unter Kontrolle. Im Gegenteil. Tokio muss die Schwere der Nuklearkatastrophe immer wieder nach oben korrigieren. So war die Regierung diese Woche gezwungen einzuräumen, es sei doppelt so viel Radioaktivität entwichen wie bisher angenommen - oder wie bisher zugegeben.

Atomkatastrophe in Fukushima: Reise in die Heimat: Im Schutzanzug besteigt ein Japaner einen Bus, der ihn in die Evakuierungszone bei Fukushima-1 bringen soll. Zweimal mehr Radioaktivität als bisher gemeldet ist dort ausgetreten, räumte die Regierung in Tokio nun ein.

Reise in die Heimat: Im Schutzanzug besteigt ein Japaner einen Bus, der ihn in die Evakuierungszone bei Fukushima-1 bringen soll. Zweimal mehr Radioaktivität als bisher gemeldet ist dort ausgetreten, räumte die Regierung in Tokio nun ein.

(Foto: AP)

Am Mittwoch zitierte die Zeitung Yomiuri eine bisher unveröffentlichte Expertise, in der es heiße, die Kernschmelze in Reaktor 1 dürfte die dazugehörige Druckkammer schon fünf Stunden nach dem Erdbeben durchgeschmolzen haben. Das wäre der sogenannte Super-GAU. Auch die Reaktoren 2 und 3 könnten demnach durchgeschmolzen sein. Zumindest müsse man annehmen, die Druckkammern aller drei Reaktoren seien geborsten.

Koichiro Nakamura, Sprecher der japanischen Agentur für Nuklearsicherheit, hatte dies bereits einen Tag nach dem Tsunami als Möglichkeit bezeichnet. Einen Tag später musste er zurücktreten. Auch US-Experten hielten eine massive Kernschmelze von Anfang an für wahrscheinlich. Die beobachteten radioaktiven Isotope ließen keinen anderen Schluss zu, sagte Kimberlee Kearfott, Professorin für Nuklearsicherheit an der Universität Michigan, kürzlich in Tokio.

Die Betreibergesellschaft Tepco und die japanische Regierung dagegen brauchten zwei Monate, um dies einzuräumen. Es ist bis heute nicht klar, ob Tepco und Regierung die Katastrophe bewusst verharmlost haben. Zumindest hat Tepco dies in den vergangenen Jahrzehnten mit Störfällen immer wieder getan.

Warnung vor Killer-Tsunamis

Nach der bisherigen Annahme dauerte es 15 Stunden bis zur Kernschmelze in Reaktor 1. Tepco behauptet, sie sei auf den Ausfall aller Kühlsysteme zurückzuführen. Je früher der GAU begann, desto wahrscheinlicher ist es aber, dass schon das Erdbeben den Reaktor beschädigte.

Das ist wichtig, weil Tepco bisher darauf besteht, der Meiler habe allen Gefahren standgehalten, für die er ausgelegt war. Damit könnten Tepco und die anderen Betreiber an ihrer Position festhalten, ihre anderen Kraftwerke seien sicher, sofern sie gegen Tsunamis geschützt würden. Insbesondere das AKW Hamaoka, dessen Abschaltung Premier Naoto Kan durchgesetzt hat, könnte dann wieder ans Netz. Hamaoka steht direkt über einer aktiven Erdbebenbruchlinie.

Dass Fukushima-1 nicht für einen Tsunami von der Wucht vom 11. März ausgelegt war, hat Tepco von Beginn an zugegeben. Das Unternehmen behauptet, mit einem solchen Tsunami habe es nicht rechnen können. Dies ist widerlegt, denn Tepco und Japans Regierung wurden mehrfach vor solchen Killer-Tsunamis gewarnt. Auch rügte die Internationale Atombehörde IAEA Japan bereits wegen der fehlenden Absicherung seiner AKWs gegen Tsunamis.

Stromausfall in Block 1 und 2

Indessen nahm am Dienstag eine zehnköpfige unabhängige Kommission ihre Untersuchung der Nuklearkrise auf. Sie wird geleitet von Yotaro Hatamura, einem emeritierten Professor der Uni Tokio. Die Kommission darf Tepco-Manager und Regierungsmitglieder zur Anhörung vorladen. Doch bemängeln Kritiker, dass die Kommission keine Macht habe, die Angehörten zur wahrhaften Aussage zu zwingen.

Professor Hatamura sagte, die Kommission wolle bis Jahresende einen Zwischenbericht vorlegen. Eine abschließende Studie sei erst möglich, wenn Fukushima-1 unter Kontrolle sei. Dieser Zeitpunkt sei ungewiss, denn Versuche, den Meiler unter Kontrolle zu bringen, fahren immer wieder fest. So wurde in Block 1 eine Strahlung von 4000 Millisievert pro Stunde festgestellt. Arbeiter, die in dieser Umgebung eingesetzt würden, bekämen in weniger als fünf Minuten die erlaubte Jahresdosis ab.

Zudem fiel am Mittwoch in den Kontrollräumen der Blöcke 1 und 2 der Strom aus, wie Tepco mitteilte. Zwar glaube man, die Kühlsysteme seien von diesem Zwischenfall nicht betroffen. Doch können die Messwerte der Sensoren in den Blöcken, die Geigerzähler und Thermometer, wegen des Stromausfalls nicht abgelesen werden.

In der AKW-Ruine haben sich in den vergangenen drei Monaten 100.000 Tonnen von radioaktiv verseuchtem Wasser angesammelt, das zur Kühlung eingepumpt wurde. Nun geht Tepco der Stauraum aus, um dieses Wasser zur Dekontaminierung aufzubewahren. Selbst das Tankfloß, das im Hafen vor Fukushima-1 liegt, ist fast voll. Deshalb wird die Firma in den nächsten Tagen erneut 3000 Tonnen schwach verseuchtes Wasser ins Meer ablassen. Japans Agentur für Nuklearsicherheit versicherte, das Seewasser werde die Grenzwerte nicht überschreiten.

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