KZ-Überlebender Maurice Cling:"Ich erinnere mich, wie Blut den Schnee rot färbte"

Maurice Cling überlebte Auschwitz und einen Dachauer Todesmarsch. Ein Gespräch mit dem Pariser Professor über überwundenen Hass, den deutschen Widerstand und die Erinnerung an das Grauen.

Oliver Das Gupta

An dem Tag, als Maurice Cling 15 Jahre alt wird, beginnt sein Martyrium: Am 4. Mai 1944 wird der Pariser Junge gemeinsam mit seinen Eltern und dem älteren Bruder Charles deportiert: Sie sind Juden. Nach der Ankunft im Konzentrationslager Auschwitz trennt die SS die Familie: Die Eltern kommen sofort ins Gas, einige Zeit später der entkräftete Bruder. Maurice Cling ist einem Kommando zugeteilt, das im Stammlager die Latrinen der Häftlinge säubern muss; eine gefährliche Arbeit, bei der sich viele seiner Leidensgenossen mit Seuchen infizieren und infolgedessen krepieren oder als nicht mehr arbeitsfähig deklariert und ermordet werden. Cling erkrankt, er denkt, das sei das Ende - doch er überlebt.

Maurice Cling KZ Dachau Holocaust Überlebender Zweiter Weltkrieg Zeitzeuge Kinderfoto

Maurice Cling als Schulkind vor der Deportation

(Foto: (Repro) Oliver Das Gupta)

Anfang 1945 wird das KZ Auschwitz geräumt, die noch lebenden Häftlinge in andere Lager geschafft. So kommt Maurice Cling ins KZ Dachau. Krank und ausgezehrt muss er an einem der sogenannten Todesmärsche teilnehmen. Amerikanische Soldaten befreien ihn in Mittenwald. Nach dem Krieg studiert Maurice Cling Englisch und wirkt als Professor für Linguistik und Phonetik, später für Komparatistik in Metz und Paris. Für die Gedenkfeiern am Wochenende zum 65. Jahrestag zur Befreiung des KZ Dachau ist er gemeinsam mit seinem Sohn Pascal nach Deutschland gekommen.

Cling bittet zum Gespräch am Freitagabend in seinem Hotelzimmer in München. Freundlich erzählt und diskutiert er, mal auf Französisch, mal auf Englisch, er gestikuliert viel mit den Händen. Seine eigene Geschichte, sagt er immer wieder, sei nicht so wichtig. Man dürfe sich nicht in Anekdoten und individuellem Leid verlieren. Das lenke nur davon ab, die Wurzeln des Nazi-Grauens zu analysieren - und die Lehren für die Zukunft zu ziehen.

Dennoch fließen die eigenen Erinnerungen immer wieder in Clings Ausführungen ein: Als er zwei Tage später auf dem Appellplatz des ehemaligen KZ Dachau steht, erzählt er von seiner Ankunft am selben Ort vor 65 Jahren - und wie die SS in Auschwitz durch ihre Sprache den Häftlingen die Menschenwürde nehmen wollte.

SZ.de: Monsieur Cling, 1945 fuhren Sie als KZ-Häftling zum ersten Mal durch München, später mussten Sie laufen - es war einer der sogenannten Todesmärsche. Mit welchem Gefühl kommen Sie nun in Hitlers ehemalige "Hauptstadt der Bewegung"?

Maurice Cling: Hass war immer da, schon als Kind. Damals war ich noch gläubig und dachte, die SS würde von Gott bestraft werden. Inzwischen bin ich nicht mehr gläubig. Noch nie war ich als Tourist in Deutschland, sondern nur zu Gedenkveranstaltungen oder wenn mein Sohn, er ist Dokumentarfilmer, seine Arbeit vorgestellt hat. Im Urlaub möchte ich nicht an mein Leid erinnert werden.

Es ist verständlich, dass Sie eine solch starke Abneigung gegenüber dem Land haben, das Ihre Familie ermordet und Sie unbeschreiblich gequält hat. Nur: Deutschland hat sich verändert.

Cling: Mir ist klar, dass ich mit meinem Hass heute nicht mehr recht habe. Ich weiß, dass sich in Deutschland viel verändert hat und dass die nächsten Generationen anders sind als damals. Was können die Jungen für die Verbrechen der Alten? Nichts. Es gibt wunderbare Deutsche, die gegen Faschismus kämpfen.

Wann hat sich bei Ihnen der Hass gelöst?

Cling: Als ich in Paris eine junge Deutsche kennengelernt habe, die Antifaschistin war (lächelt). Aber ich habe nach wie vor ein Problem mit der deutschen Sprache. Ich assoziiere Deutsch nicht mit der Kultur, sondern mit meiner Erinnerung.

Inwiefern zeigt sich das?

Cling: Wenn ich in der Pariser Metro Touristen deutsch sprechen höre, fühle ich mich plötzlich wie unter SS-Männern. Ich habe in meiner Küche Geräte von Siemens. Den Schriftzug habe ich überall überklebt, weil der Siemens-Konzern Kriegsgewinnler ist.

In der Bundesrepublik gibt es seit langem eine Aufarbeitung der Nazi-Zeit und der Verbrechen des Hitler-Regimes. Halten Sie die deutsche Gedenkkultur für ausreichend?

Cling: Ich bin zwiegespalten: Die einen engagieren sich bewundernswert für Mahnmale und Aufarbeitung, anderes liegt im Argen. Ich habe manchmal das Gefühl, dass der Kalte Krieg in den Köpfen nach wie vor herrscht. Die Rolle der Sowjetunion kommt zu kurz. Es heißt zwar, die Rote Armee habe Auschwitz befreit, aber man neigt dazu, im nächsten Atemzug auf die Gulags in Sibirien zu verweisen. Ich bin gegen solche Gleichmacherei von Nationalsozialismus und Kommunismus. Stalin herrschte brutal und mörderisch, aber man sollte solche Vergleiche unterlassen. Das Gleiche gilt für diejenigen, die deutsche Opfer der Bombenangriffe mit den KZ-Toten gleichsetzen. Das geht nicht. Die Konzentrationslager waren einzigartig. Noch nie zuvor wurden Menschen so systematisch vernichtet.

Was stört Sie außerdem?

Cling: In Westdeutschland scheiterte die Entnazifizierung, sie war sehr lax. Als die Bundeswehr gegründet wurde, machten viele von Hitlers ehemaligen Soldaten noch einmal militärische Karriere. Das hat Folgen, wie man am Beispiel der Gebirgsjäger sehen kann.

Sie meinen vor allem die Gebirgsjäger aus Mittenwald, wo Sie 1945 von den Amerikanern befreit wurden.

Cling: Hitlers Gebirgsjäger werden nach wie vor verherrlicht, auf Feiern wird eine Brücke von der NS-Vergangenheit in die demokratische Gegenwart geschlagen. Die Bundeswehr muss endlich mit dieser unseligen Traditionspflege brechen. Am 8. Mai 1945 kapitulierte Hitlers Wehrmacht, damit endete der Weltkrieg in Europa. Ich frage mich, warum der 8. Mai in Deutschland kein Feiertag ist. Es wäre doch sinnvoll und richtig, wenn die Deutschen diesen Tag der Freiheit und des Friedens begehen würden.

Inzwischen ist viel von Aussöhnung die Rede - ist das für sie als NS-Opfer akzeptabel?

Cling: Eine Versöhnung halte ich für schwer vorstellbar, denn das gesamte deutsche Volk ist damals zum Instrument der Nazis geworden.

Sehen Sie die Deutschen als "willige Vollstrecker" - also entlang der These, mit der der US-Historiker Daniel Goldhagen eine Kontroverse ausgelöst hat?

Cling: Mir geht es um die Zukunft: Wir können die Lehren aus dem Grauen des Nationalsozialismus ziehen. Ich bin auch dafür, in einer europäischen Verfassung auf die Nazi-Zeit zu verweisen. Nur, wenn wir die Lehren daraus ziehen, werden wir Europa richtig bauen können.

Wie lautet diese Lehre?

Cling: Zusammengefasst: Toleranz, Dialog und Menschenrechte. Lebendig werden diese Schlagworte, indem man wissenschaftlich vorgeht: Es gilt, die Wurzeln von Hitlers Erfolg zu ergründen und die Mechanismen der Nazis, mit denen ein ganzes Volk weitgehend auf Krieg und Hass ausgerichtet wurde.

Wie konnten Familienväter, ganz normale Polizisten, in den besetzten Ostgebieten plötzlich zu Massenmördern werden? Solche Fragen werden wir nur beantworten können, wenn wir eingehend analysieren. Wenn wir Antworten finden und verstehen, können wir verhindern, dass Ähnliches passieren kann.

"Für mich war Dachau wie ein Segen"

Zwei Tage später, auf dem ehemaligen Appellplatz des KZ Dachau: Die Gedenkfeier zur Befreiung des Lagers geht ihrem Ende zu. Die Reden und Grußworte in einem großen Zelt sind gehalten; nun legen Bundespräsident Horst Köhler und andere Kränze für die Opfer nieder, die vielen Hundert Besucher der Veranstaltung verstreuen sich. Maurice Cling steht auf dem geschotterten Appellplatz, schaut in den schmutzig-grauen Himmel, einzelne Tropfen fallen herab. Er ist froh, dass auch russische Soldaten an der Feier teilgenommen haben; denn sie seien ja auch ein Teil der Anti-Hitler-Koalition gewesen, sagt er. Es regnet immer stärker, aber Cling will nicht zurück ins Zelt, er will draußen bleiben und erzählen.

Maurice Cling KZ Dachau Holocaust Überlebender Zweiter Weltkrieg Zeitzeuge Schreibtisch

"Hier auf dem Platz lag ein Haufen mit Leibern": Maurice Cling in der Gedenkstätte Dachau im April 2010

(Foto: Oliver Das Gupta)

Cling: An dem Tag, als ich hier angekommen bin, lag viel Schnee. Wir gingen vom Bahnhof (Cling deutet in die Richtung, wo die Gleise endeten, hinter dem vergitterten Lagertor mit der eisernen Schrift "Arbeit macht frei"). Hier auf dem Platz lag ein Haufen mit Leibern. Ob es nur Tote waren oder auch Sterbende? Ich kann es nicht sagen, ich war doch selbst so erschöpft. Ich habe mich auf die Körper gelegt. Ein Mann mit roter Armbinde hat mich hochgezogen und in Richtung Baracken geschubst. Ich erinnere mich, wie Blut den Schnee rot färbte.

Das war wenige Wochen vor Kriegsende. Das Lager Dachau war damals überfüllt mit Häftlingen wie Ihnen, die aus anderen Lagern kamen. Seuchen grassierten, auch Sie erkrankten an Typhus und Tuberkulose.

Cling: Trotzdem: Für mich war Dachau wie ein Segen.

Wie das?

Cling: Die SS ließ uns meistens in Ruhe, wir wurden nicht geschlagen. Wir mussten nicht arbeiten, weil die meisten ohnehin sehr geschwächt und krank waren. Hier waren die alteingesessenen politischen Gefangenen relativ gut organisiert, uns wurde geholfen. Bei einem Appell bekam ich sogar einen Schemel, weil ich so entkräftet war.

Mit Verlaub: Diese Zustände waren brutal.

Cling: Dachau wirkte auf mich so, weil ich aus Auschwitz kam: Das war die Hölle auf Erden. Eltern und Bruder zu verlieren ist das Schlimmste. Und jede Minute musste man damit rechnen, ermordet zu werden. Ich möchte Ihnen ein Detail erzählen, das sehr aufschlussreich ist: In Auschwitz wurde man als Häftling verdinglicht. Beim Appell hieß es: "Achtung" (Cling legt die Arme an und streckt den Rücken durch). Und dann: "Augen rechts!" Das bedeutete: Wir mussten nach rechts unten sehen. Warum? Weil wir den SS-Männern nicht in die Augen blicken sollten. Das sollte uns Würde nehmen.

Und Ihren Peinigern deren verbrecherischen Taten erleichtern?

Cling: Sicher: Die SS-Männer sahen keine Menschen, sondern nur augenlose Masken. Später, als Sprachwissenschaftler, ist mir noch etwas aufgefallen: Die SS war angehalten, nicht von "Menschen" zu sprechen, sondern nur von "Stück". Verstehen Sie: Sie sagten "Tausend Stück", als ob wir Ziegelsteine oder Konservendosen wären. Das ist ein äußerst wichtiger Aspekt: Wie die Nazis die Sprache manipulierten, um die Häftlinge zu entmenschlichen. Denn Dinge haben ja keine Würde und keine Gefühle. Solche Details sind meiner Meinung nach mindestens so wichtig, wie die Bilder von Leichenbergen. Die Welt muss ihre Lehre aus Auschwitz ziehen. Dazu gehört Analyse und das passende Gedenken.

Empfanden Sie den Gedenkakt mit Präsident Köhler angemessen?

Cling: Die Reden waren gut, aber einiges hat mir gefehlt. Dachau war in erster Linie ein Lager für politische Häftlinge - und in den ersten Jahren nur für Deutsche. So wie es richtig ist, dass in Auschwitz die jüdischen Opfer im Zentrum stehen, so wäre es richtig, in Dachau mehr an die deutschen Opfer zu erinnern.

Der Schreiner Georg Elser, der Hitler 1939 mit einer Bombe töten wollte, wurde explizit erwähnt.

Cling: Aber warum hat niemand all die anderen erwähnt? Von 1933 bis 1939 sperrten die Nazis deutsche Sozialdemokraten, Kommunisten und andere politische Gegner ein. Es waren Deutsche, die schon vor Hitlers Machtergreifung gegen die NSDAP gekämpft haben. Ich habe den Eindruck, die Deutschen ehren hauptsächlich Stauffenberg und wenige andere wie Elser und die Geschwister Scholl. Aber es waren viele Tausende mehr! Die Deutschen täten gut daran, ihre Landsleute zu ehren, die Courage gezeigt haben und für ihre Überzeugung litten und starben.

Am morgigen 4. Mai wird Maurice Cling 81 Jahre alt.

Mitarbeit: Diane Gilly

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