WM 2011: Silvia Neid im Gespräch:"Profitum? Wie soll das gehen?"

Vor dem WM-Auftakt gegen Kanada: Bundestrainerin Silvia Neid über die gigantischen Erwartungen an die Heim-WM, die Tücken des ersten Spiels - und eine Aufstellung ohne Birgit Prinz.

Kathrin Steinbichler und Claudio Catuogno

SZ: Frau Neid, nur mal angenommen: WM-Auftaktspiel am Sonntag in Berlin - und in der 70. Minute liegt Ihre Mannschaft gegen Kanada 0:1 hinten. Gibt es in Ihrem Trainer-Baukasten für so ein Szenario schon eine Antwort?

German national soccer coach Silvia Neid  talks to her players during a training session ahead of the Women's World Cup in Berlin

Training vor dem Auftaktspiel gegen Kanada: Silvia Neid und ihre prägende Spielerin Birgit Prinz.

(Foto: REUTERS)

Silvia Neid: Das hängt ja immer davon ab, wie es auf dem Platz läuft. Sind wir ängstlich? Oder sind wir total überlegen, aber bringen einfach diesen Ball nicht über die Linie? Dann kannst du als Trainerin nur noch pushen und rufen: "Mädels, weiter, wir sind dran, wir sind dran", und hoffen, dass irgendeine doch noch den Ball auf den Hinterkopf bekommt - und er dann reingeht.

SZ: Oder Sie werfen das einstudierte System über den Haufen.

Neid: Ich würde es sicher mit einer Einwechslung versuchen. Bei mir ist es oft so, dass ich sage: Okay, die Spielerin tue ich jetzt noch rein, weil mein Bauch sagt, die macht jetzt noch ein Tor.

SZ: Wie war denn Ihr erster Trainer?

Neid: Mein erster Trainer? Oje. Den habe ich vergessen. Ich erinnere mich eigentlich nur noch an Anne Trabant, Gerd Neuser und Gero Bisanz...

SZ: ...zwei Vereinstrainer und den ersten Frauen-Bundestrainer des DFB. Schaut man sich von jedem etwas ab?

Neid: Nö. (lacht) Nein, wirklich nicht. Da muss man selber seinen Weg finden. Was mir bei Gero Bisanz imponiert hat: Er war der erste, der mir mal gesagt hat, was ich machen soll auf dem Platz. Seine Spielbesprechung war anders, als ich das kannte. Es gab ja auch Trainer, die haben nur eine halbe Stunde rumgebrüllt, dass man zwar motiviert war bis unter die Haarspitzen, aber wehe der Gegner war auch so motiviert. Dann war schon wieder alles ausgeglichen.

SZ: Heute ist die Motivation einer Mannschaft nur ein Aspekt von vielen.

Neid: Ich fand es immer schade, wenn ein Trainer gesagt hat: "Geh' raus und spiel'." Ich wollte wissen: Was soll ich machen, wenn der Gegner so oder so auf mich zukommt? Aber der Trainer sagte: "Spiel' einfach!" Mir hat auch nie einer gesagt: "Nimm' mal deinen linken Fuß!" Die waren immer alle froh, dass mein rechter so gut war.

SZ: Der Frauenfußball von heute hat methodisch nur noch wenig gemein mit dem Frauenfußball Ihrer aktiven Zeit?

Neid: Früher saßen beim Frauenfußball ein paar Machos auf der Tribüne und haben gerufen: "Trikottausch!" An den Zeiten muss ich mich wirklich nicht orientieren. Das erleben die jungen Spielerinnen heute zum Glück gar nicht mehr.

SZ: Wie haben Sie das gelernt: Taktik vermitteln, Spielsysteme schärfen - und dazu die Balance finden zwischen Strenge und langer Leine?

Neid: Das ist gewachsen. Mit meinen Juniorinnen-Mannschaften musste ich natürlich ganz anders umgehen als heute mit den Frauen. Da war 23 Uhr Bettruhe wichtig. Da war Mittagsruhe wichtig. Da kannte man seine Pappenheimer und musste immer gucken, dass man alle Schäfchen im Trockenen hatte.

SZ: Das ist heute nicht mehr so.

Neid: Nein. Und wenn es doch mal so ist, dann kriegt die Betreffende eine klare Ansage. Heute laufe ich niemandem mehr hinterher.

Silvia Neid über Strenge und Professionalität

SZ: Kann man das Strengsein üben?

Neid: Weiß ich nicht. Was ist denn streng? Ich werde immer gefragt: Sind Sie eine strenge Trainerin? Bin ich streng, nur weil ich sage: Ich will den Pass so nicht haben, sondern anders? Oder wenn ich sage: Ich will ein Zweikampfverhalten, bei dem der Gegner eben nicht dran vorbei kommt? Ist das streng? Oder ist es umgekehrt zielführend, wenn ich sage: Ach, schade, hast du den Zweikampf nicht gewonnen und deshalb haben wir 0:1 verloren, nicht so schlimm?

SZ: Strenge ist also nur eine Facette von Professionalität?

Neid: Ich empfinde mich nicht als streng. Ich habe klare Vorstellungen von dem, was ich möchte. Ich habe einen Plan gemacht, auch für diese WM, ich baue alles aufeinander auf und habe am Ende die Verantwortung. Ist doch logisch, dass ich es dann auch umgesetzt haben will.

SZ: Nach langen Wochen der Vorbereitung: Was ändert sich in Ihrer Ansprache, wenn das Turnier losgegangen ist?

Neid: Man muss einfach spüren, was dann wichtig ist. Eigentlich bin ich ein sehr positiver Mensch und lobe auch ganz viel. Wenn mir etwas gefällt, lobe ich. Oder wenn ich merke: Die sind alle mit vollem Ernst dabei, aber eine hat eben Angst, dann werde ich auch nie sagen: Hallo, das musst du jetzt aber mal abstellen mit deinem komischen Stellungsspiel! Dann werde ich sagen: Du hast gut trainiert! Es gibt nicht das Trainerhandbuch. Seine Menschen um sich herum kennen und spüren, was jetzt das Richtige ist, darauf wird es ankommen.

SZ: Die junge Stürmerin Alexandra Popp, die in den Vorbereitungsspielen ja schon auf sich aufmerksam gemacht hat, sagt: Ihr tut es ganz gut, dass die Bundestrainerin so ist wie sie ist - und ihr ab und zu kräftig in den Hintern tritt.

Neid: Ich habe sie in der Vorbereitung mehrfach deutlich auf gewisse Dinge aufmerksam gemacht. In der Hoffnung, dass es bis zum ersten Spiel gefruchtet hat.

SZ: Kalkulierte Strenge?

Neid: Meistens, ja. Manchmal bin ich aber auch so sauer, dann ist es nicht mehr kalkuliert.

SZ: Sauer worüber?

Neid: Flapsigkeit. Unkonzentriertheit. Gerade junge Spielerinnen vergessen manchmal, wie ernsthaft es in so einem Spiel zuzugehen hat. Wie wichtig ein einzelner Pass sein kann. Wenn der Pass richtig kommt, gibt es nämlich ein Tor, und wenn er nicht kommt, dann gibt es vielleicht ein Gegentor. Also: Nicht schlampig sein mit den Pässen! In der Liga braucht man bei den Frauen oft gar nicht diese Pass-Schärfe. Aber wer bei uns im Nationalteam neu dabei ist, der muss einiges an seinem Spiel ändern: nicht so oft quer übers Feld dribbeln, schneller abspielen.

SZ: Wird die WM, wie von manchen erhofft, ein entscheidender Schritt sein zur Professionalisierung im Frauenfußball? Zum Profitum, auch in den Vereinen?

Neid: Wie soll das gehen? Wie soll in den Vereinen plötzlich so viel Geld da sein? Es geht im Frauenfußball immer nur peu à peu. Was in den vergangenen Jahren passiert ist, ist schon Wahnsinn. Aber wir können nicht erwarten, dass wir jetzt mit einer WM die Entwicklung von 20 oder 50 Jahren überspringen. Ich weiß auch gar nicht, ob es überhaupt jemals Vollprofitum geben wird in der Bundesliga. Weil die Frauen vielleicht sagen: Es ist uns eigentlich ganz recht so, wir wollen nicht nur Fußball spielen. Uns sind auch andere Dinge wichtig.

SZ: Die Ansprüche vieler Fußballerinnen sind allerdings deutlich gestiegen.

Neid: Das stimmt. Deshalb finde ich es immer auch gut, wenn wir im Rahmen der Vorbereitung ein paar Tage in den Sportschulen sind. Meine Mutter rief mich kürzlich an und fragte: "Sag' mal, wart ihr in der Kaserne?" Das hat sie im Fernsehen gesehen und fand es schrecklich. Wieso schrecklich? Ist doch schön! Das Essen war gut, die Zimmer waren sauber, der Rasen war grün. Alles super.

Silvia Neid über Joachim Löw und den Druck

SZ: Der Männer-Bundestrainer Joachim Löw wurde kürzlich mal gefragt, welche WM-Tipps er für Sie hätte.

Neid: Und was hat er geantwortet?

SZ: Dass die Frau Neid ja viel mehr Turniererfahrung habe als er; wenn überhaupt, müssten Sie ihm Tipps geben.

Neid: Wie nett. So was ähnliches hätte ich aber auch gesagt.

SZ: Aus Höflichkeit?

Neid: Er hat ja Recht damit, dass ich mehr Turniererfahrung habe. Trotzdem muss er das so nicht sagen. Das ist schon ein sehr kollegiales, angenehmes Verhältnis, das wir miteinander haben.

SZ: Dass so ein Eröffnungsspiel eine ganz eigene Dynamik entwickeln kann, das versteht man aber auch ohne viel Turniererfahrung, oder?

Neid: Es sind einfach ganz viele Sachen, die jetzt passen müssen. Wir haben uns optimal vorbereitet. Aber ich erwarte, dass wir in dieses Auftaktspiel erst mal hineinfinden müssen. Wichtig ist in jedem Turnier, dass du am Anfang gewinnst. Dann wirst du selbstbewusster. Wenn du erst mal auf einer Welle bist, schwappst du mit der Welle mit, und dann bist du drin in deinem Spiel. Wenn du die erste Partie unentschieden spielst oder verlierst, bist du in der zweiten schon unter Druck. Und gegen Nigeria im zweiten Spiel gewinnen zu müssen, weil dann im dritten die Französinnen warten, das ist keine leichte Aufgabe.

SZ: Unter Druck ist Ihr Team als Titelverteidiger und Gastgeber sowieso.

Neid: Jede zweite Frage an mich ist derzeit: Wie gehen Sie mit dem Druck um? Wir spielen eine WM im eigenen Land! Das ist doch schön! Wer darf das denn im Sommer? Nur wir! Wir genießen das! Aber die Frage wird sein: Wie fängt unser Spiel an, ins Laufen zu kommen? Und das läuft immer am besten, wenn du früh ein Polster hast.

SZ: Birgit Prinz, die Spielführerin und Rekord-Nationalspielerin, wird nach der WM zurücktreten. Ertappen Sie sich jetzt schon bei dem Gedanken, wer sie ab Herbst ersetzen könnte?

Neid: Ich habe mir das schon vor vier Monaten aufgeschrieben, wie die Mannschaft ohne Birgit Prinz aussehen könnte, sodass ich mich jetzt nicht damit beschäftigen muss.

SZ: Ihren Spielerinnen predigen Sie, immer nur an die nächste Aufgabe zu denken...

Neid: Ich hatte halt im Februar mal wenig zu tun, und da habe ich schon mal durchgerechnet: Okay, die und die weg, wer könnte nachkommen. Dann habe ich noch mal die Nachwuchs-Mannschaften durchgeguckt...

SZ: Und das Ergebnis ist jetzt verschlüsselt auf Ihrem Laptop gespeichert?

Neid: Nein, das steht zu Hause auf irgendeinem Fresszettel. Hoffentlich finde ich den nach der WM wieder.

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