Martin Walsers Roman "Muttersohn":Wo, bitte, geht's hier zum Himmel?

"Meine Oberlippe kommt nicht in Frage, verglichen mit Deiner Oberlippe": So schreibt Percy Liebesbriefe, wenn sein Schöpfer Martin Walser ihn nicht gerade zum Predigen verdonnert. In "Muttersohn" genügt der Autor sich selbst, ein landläufiges Gelingen hatte er gar nicht im Sinn.

Burkhard Müller

In der Jugend, sagt ein persisches Sprichwort, gleiche der Mensch seiner Zeit; im Alter seinen Vorfahren. Wenn das auf irgendeinen Schriftsteller zutrifft, dann bestimmt auf Martin Walser. Als er, kaum dreißigjährig, in den Fünfzigern auftrat, da bescherte er der noch jungen Bundesrepublik ihren exemplarischen Gesellschaftsroman, erst die "Ehen in Philippsburg" und dann die Anselm-Kristlein-Trilogie, mit dem Auftakt "Halbzeit" von 1960.

Walser veroeffetlicht neuen Roman 'Muttersohn'

Die Realität des Jahres 2011 stellt Martin Walser (im Bild) so manches Hindernis. Deshalb hat er das Zentrum des Geschehens in "Muttersohn" in ein Psychiatrisches Landeskrankenhaus verlegt.

(Foto: dapd)

Der scharfe Blick des Autors kam vom zornigen linken Flügel (lange stand Walser den deutschen Kommunisten nahe); aber der Protagonist selber erlebte das alles von innen heraus, als den Zwang, sich bei Strafe des Untergangs jeder der rasch wechselnden Lagen anzupassen wie ein Chamäleon. "Mimikry" hieß ein Großkapitel; und die Figur des Anselm Kristlein entfaltete ihre peinigende Brillanz in der permanenten Selbstverleugnung des ökonomischen Subjekts. Sah man genau hin, erkannte man jedoch, wonach es sich stattdessen sehnte: Weg aus Stuttgart und München wollte es, zurück in ein Land und eine Zeit, die es schon damals nicht mehr gab, ins alte katholische Oberschwaben zwischen Donau und Bodensee, wo seine und des Autors Familie herstammten.

Jetzt, ein rundes halbes Jahrhundert später, gibt es sie wieder. Walser hat es so beschlossen. Sein Schreiben hat den Zorn wie den Zwang abgestreift, um sich seine Welt so zu bauen, wie er sie haben will. Dass die Realität des Jahres 2011 ihm dabei gewisse Hindernisse in den Weg stellt, erkennt er nur insofern an, als er das Zentrum des Geschehens in ein Psychiatrisches Landeskrankenhaus verlegt.

Aber bei diesem handelt es sich um ein altes Prämonstratenserkloster, das dessen Leiter, Prof. Dr. Augustin Feinlein, in der Art eines milden Prälaten zu leiten bemüht ist, war doch ein Vorfahr von ihm der letzte Abt gewesen, bevor das Kloster im Jahr 1803 säkularisiert, die Klosterbibliothek auf Ochsenkarren weggeführt und vernichtet wurde. Augustin Feinlein: Schon der Name verkündet, dass hier ein geträumtes Altersbild des nur unter Druck so wendig gewordenen Handlungsreisenden Anselm Kristlein vorliegt; nun ist der Druck (nicht ganz, sonst käme ja kein Roman zustande, aber doch weitgehend) von ihm gewichen, und er kann führen, was er immer wollte, die vita contemplativa eines Mönchs, ein Leben in der Beschaulichkeit.

Der eigentliche Held des Buchs aber ist Anton Percy Schlugen, oder, um die aussagekräftigere volle Form zu verwenden, Anton Parcival von Schlugen. Er ist der titelgebende "Muttersohn", ohne die verächtliche Verkleinerungssilbe, dem bestimmt ist, auf Erden jenes Einmalige zu verrichten, das dem in einer Komplettfamilie herangewachsenen Normalmenschen versagt bliebe.

Dieser Muttersohn zeichnet sich dadurch aus, dass zu seiner Erzeugung ein Vater überhaupt nicht erforderlich war, bzw. dass es seiner Mutter Josefine gelang, seine Empfängnis allein durch Briefe zu bewerkstelligen, die sie an den von ihr angebeteten Ewald Kainz schrieb, aber nie abschickte. Percy heilt Kranke, die alle anderen aufgegeben haben; Percy, rhetorisch völlig ungeschult, hält spontane Ansprachen, die die Hörer im Herzen erschüttern; Percy sammelt (obschon erst spät im Buch) ein rundes Dutzend Jünger um sich, die sich als Motorradgang verkleiden, und einer von ihnen (der, der ihn am meisten liebt) verrät und tötet ihn: Percy, mit einem Wort, ist Jesus. Davor ist Walser nicht zurückgeschreckt, und dafür muss er den Preis entrichten, den alle Schriftsteller zu zahlen haben, die für den Sohn Gottes einen neuen Sitz im Leben suchen: Das göttliche Charisma verfliegt, und der neuzeitliche Roman gelangt sozusagen von Amts wegen nicht über einen ziemlich banalen Menschenkitsch hinaus.

"Schlafsacktherapie"

Genau einmal durfte Percys Mutter für Ewald Kainz, als er bei einer Demonstration in den Siebzigern gegen die Berufsverbote sprach, das Mikrofon halten; das hat als Inspiration für ein ganzes Leben zu genügen. Doch erscheint Ewalds Engagement für die linke Sache vor allem als Ausgeburt einer höchstpersönlichen Not: Denn er hat mit seinem Stottern zu ringen. Nun ist er im Landeskrankenhaus gelandet, ganz verstummt, wo Percy, Krankenpfleger und sein Sohn in einem höheren Sinn, sich ihm mit seiner "Schlafsacktherapie" naht, welche ganz auf Güte und Schweigen setzt. Man begeht wohl keine biografistische Indiskretion, wenn man vermutet, Walser, der seinen Vater früh verlor und eine besonders enge Beziehung zu seiner Mutter unterhielt, habe hier Aspekte seiner eigenen Existenz auf zwei Rollen verteilt, den politisch umgetriebenen jungen Walser als den Alten besetzt und den alten, der seinen Frieden mit der Welt gemacht hat, als den jungen Erlöser.

Muss Ewald als Percys geistiger Vater gelten, so Augustin Feinlein als sein geistlicher; von ihm lernt er die beiden wichtigsten Fertigkeiten, die das Band mit dem Himmel knüpfen, Orgelspielen und Latein. Wenn die Figuren einander über Seiten hinweg Jakob Böhme und Swedenborg, Heinrich Seuse und Augustinus, aber auch Goethes Iphigenie, Arno Schmidt und Rilke vorlesen oder noch lieber auswendig rezitieren, trägt das zum Fortgang des Romans so gut wie nichts bei; offenbar erweist hier der Autor Walser den anderen Autoren die Reverenz, wie wenn er Büsten von ihnen in seinem Arbeitszimmer aufstellen würde. Es macht deutlich, dass Walser sein neues Buch höchstens noch zur Hälfte als eine öffentliche und literarische Angelegenheit betrachtet, vorwiegend jedoch als eine Privatsache, in die er die Leserschaft nur wie durch eine angelehnte Tür blicken lässt. (Sogar Lyrik teilt Walser auf diesem Weg mit; sie klingt, als ob einer, der sich allein glaubt, stillvergnügt vor sich hin summt.)

Darum nehmen die Mystiker unter seinen Gewährsleuten eine so herausgehobene Stellung ein. Nicht, als ob Walser selbst ein solcher wäre. Aber das mystische Erlebnis liegt doch insoweit auf seiner Linie, als es sich Anderen schlechterdings nicht mitteilen lässt und von ihm nur der Abglanz des indirekten Ausdrucks nach außen dringt. Bei Walser kommt eine trotzige Note hinzu. Als Motto des dritten Teils, "Mein Jenseits" (der bereits letztes Jahr als selbständiges Buch herauskam), setzt er ein Zitat von Jakob Böhme: "Wer es verstehen kann, der verstehe es. Wer aber nicht, der lasse es ungelästert und ungetadelt. Dem habe ich nichts geschrieben. Ich habe für mich geschrieben."

Das ist mehr, als ein bei Rowohlt publizierender Autor in Anspruch nehmen sollte. Es heißt die Freiheit des hohen Alters dann doch übertreiben und sich der Unbelangbarkeits-Erschleichung schuldig zu machen. In dieser Verquickung des öffentlichen Raums mit dem Bloß-Persönlichen gleicht Walser seinem Augustin Feinlein, der die Monstranz mit der Heilig-Blut-Reliquie aus der Stiftskirche stiehlt, um sie vor dem Unverständnis der Gegenwart in Sicherheit zu bringen. "Die herablassende Duldung, mit der die Gebildeten, egal ob kirchlich oder weltlich, die Reliquie als ein Relikt behandeln, das nur noch Peinlichkeiten bereitet, wann immer es irgendwo genannt werden muss. Für Theologen eine Torheit, für aufgeklärte Zeitgenossen ein Ärgernis."

Der Apostel Paulus, von dem Walser den letzten Satz in leichter Abwandlung entlehnt hat, fährt fort: Wir aber predigen Christus den Gekreuzigten. Walser und sein Feinlein hingegen haben dem Ärgernis und der Torheit nur ihr hochfahrendes Ich entgegenzusetzen. Glaubenkönnen, sagt Feinlein, das sei so etwas wie Musikalität: Der eine hat sie, der andere nicht, und wer nicht, dem fehlt was, ohne dass er es wüsste. So würde ein wahrer Gläubiger nicht sprechen, der seinen Glauben als widerfahrende Gnade statt als ihm gehöriges Talent begriffe. Dass Feinlein erwischt und daraufhin vom Klinikleiter zum Fall degradiert wird, betrachtet er als einen so unabwendbaren wie gleichgültigen Vorgang. Aber was es mit derartiger Weltabkehr bei Walser wirklich auf sich hat, zeigt sich, als Percy-Jesus mit seiner innigen Botschaft in einer Talkshow auftritt. "Percy: (...) Ein Mensch ist in jedem Augenblick alles, was er sein kann. Wenn man ihn reduziert auf das, was man über ihn wissen kann, ist es möglich, dass auch er sich selber nachher produziert als die Datei, die ihr aus ihm gemacht habt. (Vereinzelt Beifall aus dem Publikum.)"

Alters-Apokryphe

Der Beifall bleibt dann keineswegs vereinzelt, das Publikum kommt in Schwung, lacht und klatscht und "(stimmt zu, ziemlich lebhaft)". Hier ist eine Eitelkeit am Werk, die tut, als ob sie ihre Wirkungen nicht bemerkt, um sie insgeheim doch mit einem Taschenspiegel zu kontrollieren. Und es kann passieren, dass Percy plötzlich aus der Rolle des Allliebenden und Allesverzeihenden fällt und in seiner Predigt über die "Heruntermacher" und das "Heruntermachen" vom Leder zieht, sechzehnmal auf anderthalb Seiten. Da spürt man des Autors notorischen Groll durch, der sich regt, sooft ihm einer seine arglose Rührung nicht aufs Wort glauben mag.

Das Buch arbeitet sich ab an einem widersprüchlichen Vorsatz, den man mit nur geringer Überspitzung vielleicht so formulieren könnte: Dieser Autor will, dass man ihm dabei zuschaut, wie er sich selbst genügt. Es wäre trotzdem kein Walser-Buch, wenn in ihm nicht immer wieder auch erstaunliche Stellen und Formulierungen zu finden wären wie diese: "Meine Oberlippe kommt nicht in Frage, verglichen mit Deiner Oberlippe. Oberlippe, das kommt mir bei Dir vor wie eine Steigerung von Lippe." So schreibt Percy Liebesbriefe, wenn sein Schöpfer ihn nicht gerade zum Predigen verdonnert.

Hier flammt noch einmal des Autors alte Gabe auf, sich erotisch hinreißen zu lassen und bis zum Schamlosen an ein Du zu verlieren. Aber das Buch hat fünfhundert Seiten, auf denen beherrschend drei Walsersche Spiegel- und Wunschfiguren - Percy, Feinlein, Kainz - agieren. Als ein gelungenes sollte man es nach alledem nicht bezeichnen; nicht zuletzt, weil es ein landläufiges Gelingen gar nicht im Sinn hatte. Vielleicht sollte man ihm in Walsers überaus umfangreichem, mehr als ein halbes Jahrhundert umspannendem Werk einen Sonderplatz anweisen, ähnlich wie es sonst mit Briefen und Tagebüchern geschieht: als eine Alters-Apokryphe, einen Schatten am Rande des eigentlichen Corpus von Text und Mensch, der dessen Licht Kontur und Tiefe gibt.

MARTIN WALSER: Muttersohn. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2011. 505 Seiten, 24,95 Euro.

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