Stuttgart 21, Geißler und der "totale Krieg":"Sie leben ja wohl auf dem Mond!"

Der Schlichter und sein Schnitzer: "Wollt ihr den totalen Krieg?", hat Heiner Geißler die Stuttgart-21-Gegner gefragt. Die Aufregung folgt Tage später. Der Politiker verwahrt sich in einem Radio-Interview stur dagegen, dass das Zitat ein Verweis auf Nazi-Propagandaminister Goebbels sei - und ärgert sich lieber über die Medien als über sich selbst. Erst nach Stunden erklärt er sich.

Michael König

Hannes Rockenbauch hatte sich mit Heiner Geißler gefetzt. Immer wieder stichelte der junge rothaarige Stuttgarter Stadtrat und S21-Gegner gegen den honorigen Schlichter. Rockenbauch nahm sich das Wort, wurde von Geißler zurechtgewiesen und redete doch weiter.

Schlichter Geißler verteidigt Wortwahl ´totaler KriegÂ"

Er versucht den Konflikt um das Milliardenprojekt Stuttgart 21 zu schlichten: Heiner Geißler. In den Medien wird nun über seine Wortwahl diskutiert.

(Foto: dpa)

"Bringen Sie das nicht zu einem schlechten Ende", knurrte der einstige CDU-Generalsekretär bei der Vorstellung der Stresstest-Ergebnisse zu Stuttgart 21 am vergangenen Freitag. Da waren schon einige Stunden verronnen, in denen die Diskussion über die Vor- und Nachteile des Tiefbahnhofs zwischen Kindergarten- und Expertenniveau oszilliert hatte.

Die Runde hatte um zehn Uhr begonnen, und am frühen Abend dann bellte Geißler in Richtung Rockenbauchs und seiner Mitstreiter: "Wollt ihr den totalen Krieg?"

Eine Frage, die ihre prominenteste Erwähnung einst in einer Rede des Nazi-Propagandaministers Joseph Goebbels gefunden hatte. Seither gilt sie als vergiftet.

Durch die Runde brandete ein vielstimmig gebrummtes "Na, na, na" - "mal langsam!" Niemand echauffierte sich ernsthaft, nicht einmal Hannes Rockenbauch. Allen Anwesenden war klar, dass das ein Ausrutscher war. Das ist zu berücksichtigen, jetzt, da die unglückliche Szene mit einigen Tage Verspätung plötzlich große Aufmerksamkeit erfährt.

"Ach was, das ist keine Sprechweise der Nazis"

Heiner Geißler will nicht anerkennen, dass es ein Ausrutscher war, den er sich in der stundenlangen, zähen Veranstaltung geleistet hat. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk reagierte er verständnislos bis verärgert auf die Frage des Journalisten Tobias Armbrüster, ob er da die Nazi-Diktion verharmlost habe. "Ach was, das ist keine Sprechweise der Nazis. Der totale Krieg, den gibt es auch anderswo, den haben wir zurzeit in Syrien", sagt Geißler zunächst.

Armbrüster ließ nicht locker und beharrte darauf, das Zitat stamme von Joseph Goebbels. Tatsächlich ist die Frage "Wollt ihr den totalen Krieg?" mithin das bekannteste Zitat aus Goebbels' Rede im Berliner Sportpalast im Februar 1943. Nachdem Nazi-Deutschland die Schlacht von Stalingrad verloren und in Nordafrika empfindliche Verluste erlitten hatte, wollte der Propagandaminister die Kampfmoral der Deutschen aufputschen. Die Rede gilt als Musterbeispiel für die Rhetorik und Propaganda der Nationalsozialisten. Davon allerdings wollte Geißler im morgendlichen Deutschlandfunk-Interview nichts hören.

"So? Da wissen Sie mehr als ich", sagte er Armbrüster auf dessen Frage nach der Goebbels-Urheberschaft. Geradezu entsetzt zeigte sich Geißler wegen der Nachfrage, ob er die Absicht gehabt habe, Nazis-Ausdrucksweisen zu verharmlosen: "Ja, ich glaube, Sie sind wohl auf dem Mond zu Hause, mir zu unterstellen, ich wollte hier die Nazis verharmlosen!"

Er habe das Zitat lediglich benutzt, um die Situation zu erklären: "Waren Sie schon mal in Stuttgart und haben Sie erlebt, was da los ist?" Da drohe schon "seit geraumer Zeit" ein "totaler Krieg", sagte Geißler in dem Interview - da war es erneut, das Goebbels-Zitat. "Es hat über 100 Verletzte gegeben, ein Mensch ist total blind geworden bei dieser Auseinandersetzung." Und dann, an die Adresse des Journalisten: "Vielleicht sollten Sie mal darüber reden, anstatt über ein Zitat, das ja nur dazu dient, den Leuten klarzumachen dass es jetzt höchste Zeit ist, eine friedliche Lösung finden zu wollen."

Das Argument des Interviewers, viele Menschen hätten sich über das Zitat empört, es sei in vielen Medien wie der Süddeutschen Zeitung diskutiert worden, ließ Geißler nicht gelten. "Wenn Leute sich wegen etwas Unsinnigem empören, kann ich sie nicht daran hindern. (...) Was glauben Sie, was jetzt einzelne Journalisten schreiben! Wenn ich das lesen würde, dann wäre ich jetzt auch nicht gescheiter."

Geißlers Medienkritik ist erstaunlich. Sie verrät vielleicht den tieferen Beweggrund für seine Wutrede im Deutschlandfunk.

Zur Erinnerung: Bisher hatte der Polit-Rentner aus der Pfalz die Rolle der Medien herausgehoben. Während der Schlichtungsverhandlungen 2010 und auch bei der Stresstest-Präsentation wiederholte er mehrfach die Rekordquoten, die seine Tafelrunde dem Fernsehsender Phoenix beschert hatten. Er ermahnte die Teilnehmer, sich verständlich auszudrücken - schließlich stünden sie unter Beobachtung eines großen Publikums. Transparenz war eine Leitlinie Geißlers, die Medien waren sein Mittel. Immer wieder sagte er, in Zeiten von "Twitter, Blogs und Facebook" sei es nicht mehr möglich, Hinterzimmerpolitik zu betreiben.

Zuletzt tat Geißler jedoch genau das.

Sein Vorschlag gegen Ende der Stresstest-Präsentation, statt des geplanten Tiefbahnhofs oder des von den Gegnern geforderten modernisierten Kopfbahnhofs eine ganz andere Variante zu bauen, kam vollkommen aus dem Off. Der kombinierte Kopf- und Tiefbahnhof, als "Züricher Modell" bekannt, war in kleiner Runde mit den Schweizer SMA-Gutachtern entstanden.

Das Echo auf den Überraschungsvorschlag war gespalten - es reichte von Verblüffung bis zur totalen Ablehnung. Weil sich am Abend im Stuttgarter Rathaus niemand wirklich positiv über den Kombi-Bahnhof äußern wollte, weder die Bahn noch die Gegner noch der Landesverkehrsminister, wurde Geißlers Konzept mit dem unbescheidenen Titel "Frieden für Stuttgart" in vielen Medien als Luftnummer eingeordnet.

Als Generalsekretär bekannt für starke Sprüche

Nun ist der einstige CDU-Generalsekretär wahrlich kein Kind von Traurigkeit, wenn es um harsche Kritik geht. Er galt als "Mann fürs Grobe", als er unter dem damaligen Kanzler und Parteichef Helmut Kohl diente. Seine Attacken auf SPD und Grüne hatten gelegentlich demagogische Züge, die Friedensbewegung geißelte er als "fünfte Kolonne" des Warschauer Paktes. Sprüche wie jener, "ohne die Pazifisten in den dreißiger Jahren wäre Auschwitz überhaupt nicht möglich gewesen", brachten ihm Farbbeutel-Attacken ein - und den Ruf, seit "Goebbels der schlimmste Hetzer in diesem Land" (Willy Brandt) zu sein.

Der inzwischen 81-Jährige scheint sich heute mit Kritik schwerer zu tun. Das Deutschlandfunk-Interview trägt Züge einer Generalabrechnung mit den Medien, der Politik und dem deutschen Rechtssystem. "Unser Baurecht ist falsch, das Raumordnungsverfahren ist falsch, die Planfeststellungsverfahren sind falsch und führen vor allem dazu, dass die Leute nicht beteiligt werden", sagt Geißler. Es gebe Leute, "die reden einfach drauf los, ohne mal darüber nachzudenken oder sich zu informieren". Und dann, nach einer Kunstpause: "Das ist die Presselage."

Am Nachmittag meldet sich Geißler erneut zu Wort. Der Nachrichtenagentur dapd sagt er: "Das Zitat war eine Zuspitzung, um deutlich zu machen, dass man eine friedliche Lösung braucht. Man muss gehört werden, sonst schlafen die Leute ein." Den Eindruck, dass er im Interview das Zitat Goebbels nicht zuordnen konnte, erklärte Geißler mit den Worten: "Das war ein akustisches Missverständnis." Er habe die Frage nicht richtig gehört.

Linktipp: Das komplette Interview können Sie auf der Website des Deutschlandfunks nachhören und nachlesen.

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