Medien im digitalen Zeitalter:Journalismus extralang

Online-Aposteln zufolge könnte bald jeder Nachrichtenbeitrag von sueddeutsche.de genauso lang sein wie der Satz, den Sie hier gerade lesen. Maximal 140 Zeichen, nach dem Modell von Twitter. Im Netz hat die Frage nach der richtigen Form eine neue Debatte um das Wesen des Online-Journalismus ausgelöst.

Michael Moorstedt

Im Internet ist schon vieles totgesagt worden. Zum Beispiel die Computermaus, die das Technologieblog Techcrunch für überkommen hielt, jetzt, wo es moderne Eingabemöglichkeiten gibt, bei denen man nur noch mit den Fingern wischen und drücken muss. Die gesamte Printindustrie ist nach Meinung ihrer Kritiker natürlich auch tot, von ihr heißt es, sie sei allenfalls eine Verwertungsstelle für "totes Holz".

Twitter und Facebook

Kurznachrichtendienst Twitter: "Zu lang und zu interessant sind, um nur auf einem Browser gelesen zu werden"

(Foto: dpa)

Da tut es doch gut, wenn Jeff Jarvis, Professor für Journalismus, Online-Prophet, sowohl Blog- als auch Buchautor und notorischer Nörgler am vermeintlich veralteten Geschäftsmodell nun zumindest schreibt, der Artikel als Textgattung sei nicht tot. Und wenn doch, dann habe zumindest er, Jarvis, ihn nicht umgebracht.

An seiner Aussage hat sich in den vergangenen Wochen im englischsprachigen Internet eine scharfe Debatte geformt. Letztlich geht es darum, ob die abgeschlossene, nicht interaktive Nachrichtenvermittlung nicht längst vollkommen veraltet ist - wo es doch das Internet erlaubt, Geschichten in Echtzeit zu verfolgen und zu berichten.

Alles begann mit einem recht geharnischten Meinungsstück, das Bill Keller, bis September noch Chefredakteur der New York Times, über die Kurznachrichtenplattform Twitter verfasst hatte, die im News-Geschäft eine immer größere Rolle spielt. Die Frage lautet schlichtweg: Wie sollen Nachrichten dem Leser künftig vermittelt werden. Kann der Kern einer Geschichte wirklich auf den von Twitter vorgegebenen 140 Zeichen erzählt werden? Keller meint nein, das könne nur der Artikel. Twitter dagegen senke die Aufmerksamkeitsspanne und sei der "Feind der Kontemplation".

Kritiker der klassischen Medienwelt wie Jarvis sagen stattdessen, der Artikel spiele eine Abgeschlossenheit vor, die es im Zeitalter des permanenten Online-Seins gar nicht mehr geben könne. Anstatt vorzugeben, ein Ereignis sei mit dem letzten Satz des Textes zu seinem Ende gekommen, solle man lieber den Blick darauf richten, was weiter passiert.

"Rechteckige Plätze auf einer Seite"

"Der Artikel", schreibt Jarvis in einem Meinungsstück im Guardian, "ist nicht mehr länger die kleinste Einheit der Nachrichtenvermittlung." Es sei nicht mehr zeitgemäß, dass sich die ganze Arbeit im Newsroom noch immer darum drehe, "rechteckige Plätze auf einer Seite zu füllen". Der Artikel ist für Jarvis wie gesagt nicht tot - aber wahlweise ein Luxus- oder Nebenprodukt. Doch was die Alternative sein kann, darüber bleibt er erstaunlich still.

Als Beispiel für den beschriebenen Wandel wird der amerikanische Journalist Andy Carvin angeführt. Carvin ist beim National Public Radio, dem losen Zusammenschluss nicht kommerzieller US-Radiosender (also dem, was in Amerika am meisten den Öffentlich-Rechtlichen ähnelt) als Social-Media-Redakteur angestellt. Im Verlauf der Revolutionen im Nordafrika und dem Nahen Osten hat er zwar kaum einen Artikel selbst geschrieben, aber immerhin bis zu 1300 Tweets pro Tag in die digitale Sphäre abgesetzt. Ist Carvin noch Journalist - für seine Auswahl von Einträgen und sein Nachrecherchieren wurde er viel gelobt - oder vielmehr nur noch ein Kurator?

Auch Live-Ticker und Echtzeit-Verlinkung sind für die Skeptiker rund um Jarvis bessere Vehikel, um Nachrichten zu übermitteln, als der Artikel. Ein längeres Autorenstück solle es nur noch im Ausnahmefall geben. Um ein Thema in der Netzwelt zu verfolgen, gibt es mittlerweile Software-Plattformen wie Storify, die als Social-Media-Aggregatoren dienen. Sie ordnen für ein gewünschtes Themengebiet die Flut aus Hyperlinks, Twitter-Tags oder Status-Updates im sozialen Netzwerk und zeigen so einen thematischen Verlauf, der gewissermaßen auf diese Weise auch eine Geschichte erzählt.

Doch natürlich hat sich auch schon eine Gegenbewegung formiert. Die Anhänger des sogenannten "long form journalism" sind der Ansicht, dass gerade jetzt, wo unbegrenzt viel Platz zur Verfügung steht, das klassische Erzählen besonders gut möglich ist. Ihre Vorbilder sind Autoren wie Tom Wolfe oder Truman Capote. Die Online-Magazine Slate und Salon sind seit jeher Hüter dieser Form. Aber auch Websites wie longform.org oder creativenonfiction.org fungieren ihrerseits als Juroren für Texte, die "zu lang und zu interessant sind, um nur auf einem Browser gelesen zu werden": Vom Internet zum gedruckten Werk, jedes Quartal werden dicke Hefte herausgegeben, die sehr schnell vergriffen sind. Totgesagte leben eben länger.

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