Lebenserwartung in Japan:Alt werden oder jung sterben

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In den vergangenen drei Jahrzehnten hatte Japan die höchste Lebenserwartung weltweit und noch immer werden die Menschen hier älter als in allen anderen Ländern. Doch der Spitzenplatz ist in Gefahr - auch weil sich so viele Japaner umbringen.

Lennart Pyritz

Das Jahr begann für Japan mit bedrückenden Schlagzeilen. Am 11. März bebte die Erde, und ein Tsunami überrollte die Ostküste der Inseln. Das Atomkraftwerk in Fukushima wurde schwer beschädigt; seitdem sind Wasser, Luft und Boden radioaktiv verstrahlt und gefährden die Gesundheit der Menschen in weiten Teilen Japans.

Andere Nationen werden vermutlich bald geringere Sterblichkeitsraten bei Erwachsenen zeigen als Japan. (Foto: REUTERS)

Dabei hätte das Jahr 2011 eigentlich ein fröhliches werden sollen, eines, in dem die Gesundheit gefeiert wird. Denn Japan blickt in diesem Jahr auf das 50-jährige Bestehen von kaihoken zurück, die gesetzliche Krankenversicherung für alle. Das medizinische Fachblatt The Lancet widmet Japan zu diesem Jubiläum eine ganze Serie von Artikeln, die die geschichtliche Entwicklung des japanischen Gesundheitswesens beleuchten (online).

Das dabei entstehende Bild überrascht: In Japan werden die Menschen zwar älter als in allen anderen Ländern. Doch das Land ist dabei, seinen Vorsprung einzubüßen. Und Jahr für Jahr bringen sich Zehntausende Japaner um. Etwa die Hälfte von ihnen ist zwischen 15 und 54 Jahre alt.

"In den vergangenen drei Jahrzehnten hatte Japan die höchste Lebenserwartung weltweit", sagt Christopher Murray, Gesundheitswissenschaftler an der University of Washington in Seattle. Ein Mädchen, das heute in Japan zur Welt kommt, dürfte im Durchschnitt 86 Jahre alt werden. "Gleichzeitig betrugen die Gesundheitsausgaben im Jahr 2008 weniger als 8,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, im Kontrast zu 16,4 Prozent in den USA und 10,7 Prozent in Deutschland", sagt Murray.

Die Gründe für die Langlebigkeit hat eine Gruppe japanischer Mediziner um Kenji Shibuya von der Universität Tokio in einer der Lancet-Studien untersucht. In den 1950er und 1960er-Jahren schaffte es die japanische Regierung demnach, ansteckende Krankheiten einzudämmen und so die Kinder- und Jugendsterblichkeit stark zu verringern.

Die Einführung der universellen Krankenversicherung 1961 gab allen Japanern gleichberechtigt Zugang zu medizinischer Versorgung, unabhängig vom sozio-ökonomischen Status.

Schlaganfälle und Bluthochdruck wurden von Mitte der 1960er- Jahre an durch effektive blutdrucksenkende Mittel bekämpft. Schließlich machen Shibuya und seine Kollegen auch den festen gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhalt der Japaner für deren gute Gesundheit mit verantwortlich.

Seit Mitte der 1990er-Jahre aber kränkelt das japanische Mustersystem. Die Sterblichkeit in Japan geht langsamer zurück als in anderen Ländern. "Bei den Männern ist Japan bereits hinter Schweden, Italien und Australien zurückgefallen, bei den Frauen hinter Schweden", warnt Murray. "Wenn sich dieser Trend fortsetzt, erreichen andere Nationen vermutlich bald geringere Sterblichkeitsraten bei Erwachsenen als Japan." Shibuya und seine Kollegen vermuten, dass hoher Tabakkonsum für die negative Entwicklung verantwortlich sein könnte.

Oder die hohe Selbstmordrate. Mehr als 30.000 Japaner begehen jedes Jahr Suizid, 70 Prozent davon sind Männer. "Im Jahr 2006 haben etwa drei Millionen Menschen eine nahestehende Person durch Suizid verloren", sagen Shibuya und seine Kollegen. Ursachen sehen die Forscher in psychischen Problemen wie Depressionen, Arbeitslosigkeit, beruflichem Misserfolg und Schulden.

"Die Suizidraten könnten mit der zunehmenden sozialen und ökonomischen Unsicherheit zusammenhängen, die aus der stagnierenden japanischen Wirtschaft Anfang der 1990er-Jahre resultiert", vermuten Shibuya und seine Kollegen, "besonders mit der asiatischen Finanzkrise von 1997."

Yutaka Motohashi von der Akita-Universität pflichtet den Wissenschaftlern aus Tokio bei: "Wahrscheinlich hängt ein negativer sozio-ökonomischer Hintergrund mit den steigenden Suizidzahlen in Japan zusammen." Zudem müssten die Öffentlichkeit besser über psychische Probleme wie Depressionen informiert und Vorurteile abgebaut werden, damit sich mehr Betroffene professionelle Hilfe suchten.

Das japanische Gesundheitssystem sieht sich zudem einem weiteren wachsenden Problem gegenüber: der rasch alternden Gesellschaft. Momentan sind 23 Prozent der Japaner älter als 65 Jahre, doch in vierzig Jahren werden es bereits 40 Prozent der Bevölkerung sein. Auf eine solche demographische Verteilung war die 1961 ins Leben gerufene allgemeine Krankenversicherung nie ausgerichtet.

© SZ vom 31.08.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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