"Taste the Waste" im Kino:Die Spitze des Nahrungsberges

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Der Dokumentarfilm "Taste the Waste" zeigt schonungslos, wie unsere Wegwerfgesellschaft mit Essen umgeht. Die zentrale Frage: Warum werfen wir die Hälfte aller Lebensmittel auf den Müll?

Johannes Schnös

Die Kartoffeln, Tomaten und Gurken, die wir täglich kaufen, gehören zur absoluten Elite des geernteten Gemüses. Von Größe über Geschmack und Farbe bis hin zu Krümmungsverhalten und Rundung sind sie perfekt. Und sie sind noch dazu billig, bei all den Sonderangeboten, die es ständig gibt. Bei diesem Angebot greifen wir gerne zu. Doch hinter dieser Essware liegt eine bittere Wahrheit verborgen: Der Großteil der produzierten Lebensmittel schafft es erst gar nicht ins Regal, weil ihre Eigenschaften unserem Nachfrageverhalten zuwiderlaufen.

Riesiger Brotberg in einer Lagerhalle: "Wir leben in einer Zuvielnation". (Foto: N/A)

Computer analysieren die Farbe von geernteten Tomaten und sortieren die Früchte aus, die kein perfektes Rot haben. Kartoffeln müssen klein, rund und ebenmäßig sein. Äpfel mit einem Durchmesser unter fünf Zentimeter sind von vornherein Abfall.

Diesem Wahnsinn folgt Valentin Thurn in seiner Dokumentation Taste the Waste, die am Donnerstag in die Kinos kam. Sie hält uns Konsumten den Spiegel vor, indem sie eine einfache Frage stellt: Warum werfen wir die Hälfte unserer Lebensmittel weg?

Thurns Film vermeidet den erhobenen Zeigefinger und schildert mit großer Ruhe die verstörende Verschwendung von Lebensmitteln in der westlichen Welt. Geschickt montiert aus vielen kleinen Interview-Episoden und Momentaufnahmen gelingt Thurn eine vielschichtige Dokumentation.

Fehlende Wertschätzung für Lebensmittel

Ohne zu aufdringlich zu werden, ist die Kamera immer nahe am Geschehen: Am deutschen Kartoffelbauern, der beklagt, dass er stets die Hälfte seiner Ernte aussortieren muss, obwohl die Ware einwandfrei genießbar ist und nur scheitert an den ästhetischen Wünschen des Handels und der Kunden. Thurn filmt in einem japanischen Supermarkt, in dem ein Mitarbeiter frisches Sushi wegwirft, weil es eben nicht total makellos ist - 50 Kilogramm täglich.

Die Kamera folgt Angestellten eines französischen Großhandels, die gerade im Begriff sind, 8500 Kilogramm Orangen in den Müll zu werfen, weil diese zu reif aus Spanien angeliefert wurden. Dabei handelt sich um kein halbverottetes Obst, es sind saftige süße Früchte. Doch sie würden dem Einzelhandel zu viele Umstände machen, wenn sie jemand nach einigen Tagen aus dem Regal sortieren müsste. "Damit nerven wir uns nicht herum" hören wir einen Arbeiter in gleichgültig-frechem Tonfall sagen. Spätestens hier schüttelt der Zuschauer ungläubig den Kopf.

Die zwei jungen Männer, die ganz zu Beginn des Films in den Mülltonen von Wiener Lebensmittelketten nach Essbarem suchen, wirken zunächst befremdlich. Sie suchen nicht aus Not nach Essbaren, sondern sehen das als politisches Statement. Wenn sie berichten, wie viele immer noch haltbare, eigentlich perfekte Lebensmittel sie aus dem Müll ziehen, macht der Film seinen ersten Punkt.

Hungerkatastrophe am Horn von Afrika
:"Viele sind schon zu schwach, um sich zu retten"

Die schwerste Dürre seit Jahren bedroht zwölf Millionen Menschen, eine halbe Million Kinder sind in akuter Todesgefahr. Und auch wer die Flüchtlingslager erreicht, ist noch nicht in Sicherheit.

Die "fehlende Wertschätzung von Lebensmitteln" wird in den 88 Minuten des Films immer wieder in Worte gefasst, dabei wäre dies nicht einmal nötig. Die Aufnahmen und Zahlen, die der Film präsentiert, wirken ohnehin monströs: beispielsweise der Laster, der Brot auf einen riesigen Haufen kippt. 500.000 Tonnen Gebäck landen pro Jahr weltweit im Müll, während Hungersnöte in Afrika wüten. Unser Konsumverhalten findet offenbar völlig entrückt von der Realität statt. Wir haben uns in einem Maße an eine perfekte Lebensmittelversorgung gewöhnt, dass Produkte nur noch zum täglichen Beiwerk, zu einem organischen Bestandteil des Mülls werden, den wir täglich absondern.

Der Umweltjournalist Stefan Kreuzberger umschreibt dieses Phänomen mit dem Begriff "Zuvielnation". Zusammen mit Regisseur Thurn schrieb er 2011 das Buch Die Essensvernichter. Die Überproduktion sei in Deutschland im Vornhinein eingeplant. "Das führt dazu, dass pro Tag tonnenweise Brot vernichtet wird - die Menge würde reichen, um Niedersachsen zu ernähren", so der Journalist in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung.

Zug um Zug lässt Thurns Film auf die Gründe dieser Verschwendung schließen, er lässt sie den Betrachter selbst erkennen - ganz ohne oberlehrerhafte Attitüde. Sukzessive, entfaltet sich durch jede neue Episode in der Dokumentation das Netz aus Konsumverhalten, rechtlichen Regelungen und gesellschaftlichen Verhaltensweisen, das in seiner Gesamtheit unglaubliche Ausmaße annimmt: 50 Prozent aller weltweit produzierten Lebensmittel erreichen niemals die Münder der Menschen.

Ab ihrer Hälfte nähert sich die Dokumentation auch den globalen Auswirkungen des Verschwendungswahns der Industrienationen: Was ein verzerrter Lebensmittelmarkt auf der Südseite der Welt anrichtet und welche massiven Umweltprobleme er nach sich zieht. Die Mülldeponien dieser Welt, auf denen die Berge weggeworfener Lebensmitteln verrotten, erzeugen 15 Prozent des Methans, das in die Atmosphäre gelangt. 40-mal klimaschädlicher als Kohlenstoffdioxid.

Und der Film räumt mit einer Legende auf: Der berüchtigten EU-Verordnung zum Krümmungsgrad von Gurken. Was gerne weltfernen Bürokraten in Brüssel zugeschrieben wird, war eine Initiative des Handels. Gerade Gurken passen besser in gerade Boxen. So werden Kosten gesenkt. Alle krummen Gurken werden weggeworfen. Dies drückt die Preise, aber auch den Gewinn der Bauern. Als die EU diese Regelung abschaffen wollte, wehrte sich der Handel dagegen - und das bayerische Umweltministerium.

Bienen über New York

Und doch regt sich beim Zuschauer nicht nur Betroffenheit: Taste the Waste ist auch ein konstruktiver Film, der die Hoffnung nicht aufgibt. Eindrucksvolle Aufnahmen aus New York zeigen einen jungen Imker, der über den Dächern der Stadt Bienenvölker hält und dafür die Tausenden Bäume der Stadt nutzt. Eine junge Frau baut dort, unweit von Manhattan, Gemüse an, auch weil sie so den Stadtbewohnern ein Gefühl für Lebensmittel zurückgeben will. Viele New Yorker, so sagt sie, hielten eine am Strauch hängende Tomate für einen Apfel.

Thurn zeigt Menschen, die sich wehren, die ihr Verhalten verändern. Ein örtlicher Zusammenschluss von Farmern und Verbrauchern in den USA beispielsweise, der das Gemüse, das der Handel nicht haben will, zu einem Tagesfestpreis anbietet. So viel Gemüse und Früchte wie man will - für 50 Cent am Tag. Das wirkt wie ein Witzpreis, doch es ist eine Gewinnsituation für alle Beteiligten.

Dabei hätte der Verbraucher so viel Macht. Es ist sein Verhalten, das alles bestimmt und alles ändern kann: Die von Al Gore oskarträchtig beschworene "unbequeme Wahrheit" gilt weiterhin. In diesem Fall besagt sie, dass die Verschwendung von Lebensmitteln ein Zeitvertreib der oberen Milliarde ist. Für den großen weniger privilegierten Rest der Weltbevölkerung treibt jedes Brot, jede Frucht, die wir wegwerfen, die Lebensmittelpreise nutzlos in die Höhe. Für Menschen, die ihr gesamtes Einkommen für Essen ausgeben müssen, wird unser Luxusproblem zu einem existenziellen.

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