Nuklearzentrum Marcoule in Südfrankreich:Gemischtwarenladen für Atomtechnik

Die Explosion forderte einen Toten und mehrere Verletzte. Schnell beschwichtigte der französische Stromkonzern EDF, bei dem Vorfall in der Atomanlage Marcoule handele es sich um einen schlichten Industrieunfall. Tatsächlich aber hat das Unglücksgelände so ziemlich alles zu bieten, was an Nukleartechnik vorstellbar ist. Seit vielen Jahren wird hier radioaktiver Abfall verarbeitet - jetzt ist offenbar etwas sehr schief gegangen.

Christopher Schrader

Die Explosion eines Schmelzofens im südfranzösischen Marcoule, bei der ein Arbeiter getötet und vier verletzt wurden, hat am Montag die Aufmerksamkeit auf einen zentralen Schauplatz der französischen Nuklearwirtschaft gelenkt. In dem Ort im Department Gard, etwa 30 Kilometer nördlich von Avignon, war der erste Kernreaktor der Nation ans Netz gegangen; jahrzehntelang wurde hier das Material für Atombomben erzeugt. Neben La Hague ist Marcoule heute ein Zentrum für die Behandlung von radioaktivem Abfall.

SZ-Grafik, Marcoule, Frankreich

Die Atomanlage liegt im südfranzösischen Marcoule nördlich von Avignon. Klicken Sie in die Karte, um eine vergrößerte Darstellung zu erhalten.

Schnell beschwichtigte ein Sprecher des Stromkonzern EDF, es handele sich nicht um einen Atomunfall, sondern um einen schlichten Industrieunfall. Ein Tochterunternehmen des Unternehmens namens Socodei betreibt die Anlage. Zudem gebe es auf dem Gelände keine Kernreaktoren, hieß es weiter.

Diese Angabe aber bezieht sich offenbar nur auf das unmittelbare Werksgelände, das zum EDF-Konzern gehört - und sie ist irreführend. Tatsächlich hat Marcoule so ziemlich alles zu bieten, was an Nukleartechnik möglich oder nötig ist, darunter sechs Reaktoren, Anlagen zur Herstellung und Wiederaufbereitung von Brennelementen, sowie diverse Lager und Verpackungseinrichtungen für radioaktiven Abfall. Vieles davon ist stillgelegt und wird langsam abgebaut und entsorgt, anderes ist noch in Betrieb.

Marcoules Nuklear-Geschichte begann schon Mitte der 50er Jahre, als dort der G1-Reaktor gebaut wurde. Er ging als einer der ersten Atommeiler der Welt ans Stromnetz, aber seine Hauptaufgabe war stets die Herstellung von Plutonium für Frankreichs Force de Frappe, die Atomstreitmacht. Kurz danach kamen zwei weitere Reaktoren hinzu; der letzte der drei lief bis 1984.

Außerdem wurde in Marcoule der Phenix betrieben, der Prototyp eines Brutreaktors, den die Ingenieure aber technisch nie wirklich in den Griff bekamen. Außerdem beherbergt der Ort die beiden Celestin-Reaktoren, die ebenfalls lange für die Produktion von Waffen-Plutonium benutzt wurden und jetzt offenbar das radioaktive Tritium herstellen - eine gegenüber der Grundform dreimal so schwere Variante von Wasserstoff.

Eine ältere Anlage zur Wiederaufbereitung von Brennelementen, die vor allem militärisch genutzt worden war, ist bereits stillgelegt und wird demontiert. Das Verfahren soll 2035 abgeschlossen sein, die Entsorgung wird dann fast genauso lang gedauert haben wie zuvor die Nutzung der Anlage.

Der Atomkonzern Areva betreibt in Marcoule außerdem eine Produktionsstätte für sogenannten Mischoxid-Brennelemente, die sowohl Uran als auch Plutonium enthalten. Letzteres wird bei der Wiederaufbereitung von gebrauchten Brennelemente gewonnen und erneut als nuklearer Treibstoff verwendet. In dieser Anlage gab es im März 2009 einen Störfall, weil mehr spaltbares Material als erlaubt angeliefert worden war. Es darf sich schließlich nirgends so viel Nuklearmaterial ansammeln, dass ein Kettenreaktion in Gang kommt.

Und schließlich ist Marcoule ein Zentrum für strahlende Abfälle. Es gibt in dem südfranzösischen Nuklearkomplex eine Anlage, um hochradioaktiven Müll in Glas einzugießen, sowie die Öfen der Firma Socodei, die schwach radioaktive Metalle einschmelzen und brennbare Stoffe verbrennen. Die dabei entstehende Asche und Schlacke sowie die Metallbarren werden später eingelagert.

Außerdem stehen auf dem Gelände noch mehr als 30.000 Fässer mit bitumisierten Abfällen. In dem klebrigen Erdöl-Produkt sind offenbar Schlacken aus einer früheren Anlage in Marcoule eingegossen und warten auf ihre Entsorgung. In den späten 60er-Jahren waren die Behörden auf die Idee gekommen, 46 000 ähnliche Fässer im Atlantik zu versenken. Damals galt das als Experiment.

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