Bundestag lädt Behinderte wieder aus:Rollstuhlfahrer müssen draußen bleiben

Eine historische Versammlung sollte es werden, doch am Ende stand eine Blamage. Der Bundestag lädt 300 Behinderte zu einer gemeinsam Versammlung ein - und später wieder aus. Der Grund: Es hatten sich zu viele Rollstuhlfahrer angemeldet. So viele verkrafte das Gebäude nicht. Bei den Behinderten erntet die Politik nun Spott und Häme - die beteiligten Abgeordneten reagieren kleinlaut.

Michael König

Politiker beklagen sich häufig über mangelnde Aufmerksamkeit. Aber wenn sich dann schlagartig sehr viele Menschen interessieren, ist das unter Umständen auch nicht recht. Dann muss eine Veranstaltung abgesagt werden, weil sie gegen Brandschutz- und andere Sicherheitsverordnungen verstößt. Und der Ärger bei allen Beteiligten ist groß.

Fraktionssitzung CDU - Schäuble

Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat im Bundestag keine Probleme. Doch 100 Rollstuhlfahrer waren dem Parlament zu viel. Eine Veranstaltung mit Behinderten wurde deshalb abgesagt.

(Foto: dpa)

Am 2. und 3. Dezember sollten im Reichstagsgebäude Menschen mit Behinderung die Gelegenheit haben, mit Politikern zu diskutieren. Zum ersten Mal in der Geschichte sollte es eine gemeinsame Sitzung geben, um über die UN-Behindertenrechtskonvention und Barrierefreiheit zu diskutieren. Was dann passierte, bezeichnet Markus Kurth, der behindertenpolitische Sprecher der Grünen, als "ärgerlich, peinlich und blöd".

Das Angebot war auf großes Interesse gestoßen, der Deutsche Behindertenrat hatte sich über die "bemerkenswerte Initiative" gefreut. Etwa 300 Teilnehmer meldeten sich an. Darunter mehr als 100 Rollstuhlfahrer. Zu viele, fand die Bundestagsverwaltung. Etwa 30 seien zu verkraften gewesen, womöglich auch etwas mehr. Aber 100? Da sei die Sicherheit im Parlament nicht mehr gewährleistet. Der Brandschutz! Technische Bestimmungen! So leid es ihnen tue, das gehe nicht.

Am Mittwoch verschickten Kurth, seine Kollegen der anderen im Bundestag vertretenen Parteien und der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Hubert Hüppe (CDU), eine gemeinsame Absage. Man habe extra die Oberste Bauaufsicht der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und die Berliner Feuerwehr um "intensive Prüfung" gebeten. "Doch bezüglich der Sicherheit Abstriche zu machen, war für uns keine Option."

"Zeichen von Hilflosigkeit"

Jetzt sind viele Behinderte sauer - und werfen den Politikern dilettantisches Verhalten vor. "Ja, wer rechnet denn mit so was? Da macht man eine Veranstaltung zum Thema Teilhabe und die Leute, die teilhaben sollten, kommen auch noch?", fragt die in London lebende Journalistin Christiane Link in ihrem Blog Behindertenparkplatz.

Für Barbara Vieweg, die Vorsitzende des Deutschen Behindertenrats, ist die Absage ein "Zeichen von Hilflosigkeit im Umgang mit Behinderten und Barrierefreiheit". Adolf Bauer, Präsident des Sozialverbands Deutschland, nennt die Angelegenheit "absurd". Es hätten "organisatorische Vorkehrungen getroffen werden müssen, um das Debakel zu verhindern".

Die Leser der Seite kobinet (Kooperation Behinderter im Internet) schäumen: "Ein wirklich schwaches Bild für Deutschland", "mehr als peinlich" und "Rollstuhlfahrerdemos in Berlin! Sofort!" lauten die milderen Kommentare. Die Ausgrenzung Behinderter habe in der Bundesrepublik Methode, so der Tenor.

Nur die Linke stimmt dagegen

Der Bundestag wollte genau das Gegenteil beweisen - der Jammer ist entsprechend groß. "Man hat sich verkalkuliert", sagt Silvia Schmidt, behindertenpolitische Sprecherin der SPD, im Gespräch mit sueddeutsche.de. "Ich verstehe die Aufregung der Betroffenen, ich hoffe auf ihr Verständnis. Es war leider nicht möglich. Wir können uns keinen Raum schnitzen."

Offensichtlich sei beim Bau des Plenarsaals nicht darauf geachtet worden, dort eine große Anzahl von Rollstuhlfahrern unterzubringen, mutmaßt Schmidt - eine Aussage, die wohl für viele Gebäude in Deutschland gelten dürfte.

"Das wirkliche Leben hat den Bundestag eingeholt"

Die Politiker diskutierten zwar, die Versammlung in eine andere Räumlichkeit zu verlegen. Etwa auf dem Berliner Messegelände oder in Zelten vor dem Reichstag. Sie kamen aber zu dem Schluss, das würde "dem Charakter der Veranstaltung nicht gerecht", wie die SPD-Politikerin Schmidt sagt.

Letztlich entschieden sich die behindertenpolitischen Sprecher der Bundestagsfraktionen mehrheitlich für die Verschiebung des Termins - er soll Ende 2012 nachgeholt werden. Lediglich Ilja Seifert von der Linkspartei, selbst Rollstuhlfahrer, stimmte gegen die Absage. "Das wirkliche Leben hat den Bundestag auf äußerst unangenehme Weise eingeholt", schreibt Seifert in einer Pressemitteilung. Es gebe Bereiche, die für Rollstuhlfahrer unzugänglich seien - nun müsse sich der Bundestag damit beschäftigen, wie viele Rollstuhlfahrer hineindürften.

Tatsächlich dürfte in den kommenden Wochen und Monaten intensiv darüber nachgedacht werden, wie der Nachholtermin zu gestalten ist. Eine neuerliche Schmach will die Politik unbedingt vermeiden. Dass der Plenarsaal bis 2012 vergrößert wird, gilt jedoch als ausgeschlossen. Der Grünen-Politiker Kurth regt an, so viel Platz zu schaffen, wie irgendwie möglich - und zur Not die Versammlung auf Leinwände in anderen Gebäuden zu übertragen. Anders gehe es nicht. Barbara Vieweg vom Deutschen Behindertenrat betont jetzt schon, dass ihr Aktionsbündnis keine Lösung mittragen wird, die "Menschen im Rollstuhl ausgrenzt".

"Man kann nur hoffen, dass sich weniger Rollstuhlfahrer anmelden", sagt die SPD-Politikerin Schmidt. Damit wäre das Platzproblem im Bundestag gelöst - die Frage nach der Teilhabe Behinderter an der Politik aber noch lange nicht.

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