150 Jahre Telefon:"Das Pferd frisst keinen Gurkensalat"

Als der Tüftler Philipp Reis vor 150 Jahren das erste Telefonat führte, ahnte er noch nicht, was sein neues Medium auslösen würde: Gelbe Telefonzellen, R-Gespräche, schnarrende Wählscheiben und nun der Dauertratsch in der Öffentlichkeit: Eine kleine Kulturgeschichte.

Bernd Graff

Man kann nicht über das Telefon sprechen, ohne über Stimmen zu sprechen. Freundes- und Freundinnenstimmen, Kinderstimmen, Elternstimmen, Verwandtenstimmen. Eindrucksvolle Stimmen, betrübte Stimmen, sanfte und heitere Stimmen. Über Lachen und Weinen, über Geheimnis und Flüstern, über Streit und schreiend aufgeknallte Hörer.

Das Telefon feiert 150. Geburtstag

150 Jahre Telefon: Im Museum am Lindenbühl in Mühlhausen ist ein Tischapparat OB-05 aus dem Jahr 1906 zu sehen, die Abkürzung OB steht für Ortsbatterie.

(Foto: dpa)

Man kann aber auch nicht über das Telefon sprechen, ohne über Raum zu sprechen. Denn das Telefon, das gerade mal 150 Jahre alt wird, war an die 130 Jahre lang fixiert an einen Ort. Und dank der immer spiddelig-verquirlten Telefonschnur, die den Apparat (samt Wählscheibe!) mit dem Hörer verband, waren es die Telekommunikationsteilnehmer eben auch.

Obwohl die Stimmen über das Telefon weiteste Räume überbrücken konnten, waren die Sprechenden an den Ort gebunden, an dem sich der Apparat befand. Von der Deutschen Post, vor der Telekom für die Installation der Apparate zuständig, wurde dieser Raum gerne in die Flure und Dielen deutscher Mietswohnungen gelegt. Weswegen die Telefonate im Winter oft eisig waren, obwohl sie ganz unfrostig geführt wurden.

Man muss also zuerst über den Raum sprechen, der für das Telefonieren bestimmt war. Telefonzellen und Dielen, wie gesagt. Mit Notizblöcken voller Telefonats-Krakeleien, die anschließend von Psychoanalytikern für bare Münze genommen werden konnten.

Ziehen am Anschlusskabel

Man muss darüber sprechen, wie sich Finger in die verdrehten Kabel einwickelten, wie Kugelschreiber ungezählte Male die Kreisbahn der zehn Ziffern in der Drehscheibe nachzeichneten, wie versucht wurde, das immer viel zu kurze Anschlusskabel des Apparats durch ausgiebiges Ziehen in ein beheiztes Zimmer hinein zu verlängern. Auch deshalb, damit eben nicht im Flur über mögliche Schwangerschaften und den Nachlass von Oma vor aller Ohren gesprochen werden musste.

Man muss über R-Gespräche sprechen. Das, liebe Kinder, sind Gespräche, bei denen der Angerufene bezahlt - und dabei meist zu hören bekommt, dass er außer dem Gespräch doch bitte auch noch dies und das bezahlen oder wenigstens vorschießen soll.

Telefonieren als Prestigeangelegenheit

Das kann man sich in Zeiten von Flat-Rates gar nicht mehr vorstellen: Telefonate waren tatsächlich einmal teuer. Ferngespräche ins Ausland sowieso, sie wurden im Minutentakt abgerechnet, was bei transatlantischen Gesprächen richtig ins Geld gehen konnte. Ferngespräche in nahe Städte waren kostenmäßig auch nicht ohne, Ortsgespräche wurden pauschal berechnet.

Weil Telefonierenkönnen also eine Prestigeangelegenheit war, kauften sich die Geschmackloseren unter den Privilegierten üppig bunte Brokathüllen für die grauen Apparate, damit sie nicht wie die Allerwelts-Einheitstelefone aussahen, die sie tatsächlich waren. Es gab, bis zur Erfindung des Tastentelefons weit nach der Mondlandung, tatsächlich nur diese hospitalgrauen, bald eklig verschmuddelten Fernsprecher.

Der Schrecken des läutenden Telefons

In den Siebzigern waren die teureren Modelle dann auch mal orange oder oliv, aber eigentlich blieben sie grau. Trotzdem: Besser als die Münzfernsprecher in den Telefonzellen waren sie allemal.

150 Jahre Telefon

Der Physiker Johann Philipp Reis (1834-1874) (Foto: Stadtarchiv der Stadt Friedrichsdorf, zwischen 1863-74). Reis stellte im Jahr 1861 dem Physikalischen Verein in Frankfurt am Main den ersten funktionsfaehigen Prototypen eines Geraetes vor.

(Foto: dapd)

Denn davor musste man, etwa bei der Wohnungssuche nach Erscheinen der Mietangebote in den Zeitungen, immer mit Beuteln voller Münzgeld Schlange stehen. Obwohl bis in die siebziger Jahre die Mahnung "Fasse dich kurz" an öffentlichen Fernsprechern angebracht war. Trotzdem, man tat sich das an.

Um die eigene Stimme in die Welt zu schicken und vertraute Stimmen zu hören oder die von Vermietern, die ihre Wohnung gerade vergeben hatten. Telefonieren, auch das kann man sich nicht mehr vorstellen, war eine Heim- und Büro-Angelegenheit. Hochoffiziell bei Ämtern, sehr privat bei Freunden und Verwandten.

Für beides galt: Wer nicht erreichbar sein wollte, folgte dem Pawlow'schen Telefon-Reflex - das Glöckchen klingelt, die Hand greift zum Hörer - nicht oder legte gar den Hörer neben den Apparat, um dauerhaft Besetztzeichen zu senden. Andererseits: Wie viele Stunden wartete man in eisigen Fluren, um das Glöckchen zu hören! Etwa, weil die Frau des Lebens gesagt hatte, heute vielleicht anrufen zu wollen.

Proust und Benjamin waren wenig medienkompetent

Und jetzt muss man über Stimmen sprechen. Für Walter Benjamin, einer der großen Philosophen des frühen 20. Jahrhunderts, war schon das Läuten des Telefons blanker Schrecken: "In diesen Zeiten", schreibt er in seiner Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, "hing das Telephon zwischen der Truhe für schmutzige Wäsche und dem Gasometer in einem Winkel, von wo das Läuten die Schrecken der Wohnung nur steigerte. Wenn ich dann, meiner Sinne kaum mehr mächtig, dort anlangte, um den Aufruhr abzustellen, war ich der Stimme ausgeliefert, die da sprach. Ohnmächtig litt ich und ich ergab mich dem ersten besten Vorschlag, der durch das Telephon an mich erging."

Was Benjamin so erschütterte, war nicht weniger als das, was Computerforscher heute Immersion nennen, das Eintreten in eine virtuelle Realität. Schon Marcel Proust schauderte beim Telefonat mit seiner Großmutter, weil er zwar ihre vertraute Stimme wahrnahm, ihm aber Mimik und Gestik der Oma fehlten. Benjamin und Proust waren eben wenig medienkompetent.

Heute erschrickt uns das Telefonat als solches nicht mehr, es stört allenfalls. 1964 schrieb Marschall McLuhan in Understanding Media, dass neue Medien "Ausweitungen unseres Körpers in den Raum hinaus" seien. Im Kapitel "Tönendes Erz oder Klingelndes Sinnbild" dieses Buches sagt er entsprechend: "Mit dem Telefon kommt es zu einer Ausweitung des Gehörs und der Stimme, die eine Art außersinnliche Wahrnehmung darstellt".

Hysterisch plärrender Wildfang

Denn weil "das Telefon ein sehr schwaches Hörbild vermittelt, verstärken und vervollständigen wir es durch den Einsatz aller anderen Sinne." Wohlgemerkt: McLuhan sprach nicht von Telefonsex. Denn der war 1964 noch nicht erfunden. Jedenfalls nicht öffentlich.

Vilém Flusser, auch er Philosoph, hielt das Telefon eben wegen dieses auf den reinen Austausch von Stimmen ausgerichteten Dialogs für ein Symbol der Freiheit. Unter anderem, weil "die Struktur des Telefonierens" eine gegenseitige Anerkennung der Telefonpartner erzwinge, da sie sich in die "dialogische Spannung" des Gegenübers hineinversetzen müssten.

Zwar erkannte Flusser in dem Telefon, diesem "hysterisch plärrenden Wildfang", eine innewohnende Dialektik, da der Fernsprecher gleichzeitig verbinde und trenne. Doch sei diese Erfindung der Einstieg der Zivilisationen in die "telematischen Gesellschaften" gewesen, in denen die "Telepräsenz die face-to-face-Kommunikation ersetzen konnte".

"Das Pferd frisst keinen Gurkensalat"

Erstaunlich, wenn man an die ersten Sätze denkt, die am 26. Oktober 1861 von Philipp Reis am Telefon gesagt wurden: "Die Sonne ist von Kupfer" und "Das Pferd frisst keinen Gurkensalat".

2011 sollen weltweit 1,4 Milliarden Telefone im Wert von 174 Milliarden Euro verkauft werden. In 83 Prozent der Telekommunikationsfälle werden sie wohl gebraucht, um Verabredungen von realen Personen in der realen Welt zu treffen. Offenbar haben wir gelernt, ein Medium zu beherrschen und eben nicht, wie die frühen Telefon-Denker, uns von ihm beherrschen zu lassen.

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