Kinder und ADHS:Ritalin für Vierjährige

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Bei Verhaltensauffälligkeit Ihres Kindes fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker: Über das Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsyndrom ADHS gehen die Meinungen weit auseinander. Für die einen ist es eine Epidemie, für andere frei erfunden. Doch amerikanische Kinderärzte empfehlen: Schon Vierjährige sollen Pillen schlucken.

Werner Bartens

Die einen sprechen von der Epidemie des 21. Jahrhunderts, andere von Modediagnosen oder einer erfundenen Krankheit. Zum Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) hat jeder eine Meinung. Schließlich gibt es kaum mehr normale Schüler, sondern nur hochbegabte, teilleistungsgestörte und selektiv förderbedürftige Kinder. Überall schlummern versteckte Talente, deren irrlichternde Assoziationsfetzen nur in richtige Bahnen gelenkt werden müssen, damit aus einem verkannten ein bekanntes Genie wird.

Die Vereinigung Amerikanischer Kinderärzte empfiehlt: Pillen schon für Vierjährige (Foto: clairette / photocase.com)

Für Kinder und Jugendliche außer Rand und Band bietet die Pharmaindustrie Hilfe aus der Pillendose. In den vergangenen 20 Jahren sind die Verordnungen für Methylphenidat, bekannt als Ritalin oder Medikinet, um mehr als das Hundertfache in die Höhe geschnellt. Wurden 1990 weniger als 500.000 Tagesdosen des Psychopharmakons verschrieben, betrug die Verordnung im Jahr 2000 schon 13,5 Millionen Einheiten, um im Vorjahr auf 55 Millionen Tagesdosen zu steigen.

Die neuen Empfehlungen der Vereinigung Amerikanischer Kinderärzte könnten diesen Trend weiter befördern. Die Richtlinien gelten nicht mehr nur für Sechs- bis Zwölfjährige, sondern neuerdings auch für Vier- bis Achtzehnjährige. Kinder und Jugendliche sollen demnach früher und intensiver medikamentös wie psychotherapeutisch behandelt werden. Auch sollen Hausärzte und Kinderärzte daran denken, bei allen Schulproblemen oder Verhaltensauffälligkeiten auf ADHS zu untersuchen.

Warnung deutscher Ärzte

"Das ist eine sehr problematische Entwicklung", sagt Franz Joseph Freisleder, Direktor des Heckscher-Klinikums München für Kinder- und Jugendpsychiatrie. "Man sollte sich davor hüten, die Diagnose ADHS inflationär auszuweiten und zum Oberbegriff für jede bunte Verhaltensauffälligkeit zu machen." Für Freisleder sind Ritalin und Co. durchaus berechtigt, "wenn die Diagnose stimmt und andere Therapien nicht geholfen haben". Das gelte aber nur bei strenger Indikation, und vor dem sechsten Lebensjahr müsse man "sehr zurückhaltend sein".

Seriösen Studien zufolge ist die Diagnose ADHS bei drei bis vier Prozent der Kinder und Jugendlichen berechtigt. In den USA wird ADHS hingegen neun bis zwölf Prozent eines Jahrgangs zugeordnet, manche Publikationen sprechen von 15 bis 20 Prozent. Aber auch bei schweren Fällen wird nicht immer Methylphenidat verordnet; ein Drittel der Behandelten spricht gar nicht auf das Mittel an. Über Halluzinationen, unklare Todesfälle und Herzschäden nach Methylphenidat-Einnahme wurde öfter berichtet.

"Aufgrund bekannt gewordener Vorfälle muss vor der Verordnung überhöhter Dosen sowie laxer Indikationsstellung gewarnt werden", schreibt der Arzneiverordnungsreport 2010. Viele Diagnosen werden zu schnell gestellt, nur 15 Prozent der ADHS-Patienten sind in der Betreuung von Spezialisten. In die Kritik geriet die Arzneibehandlung auch 2008, als bekannt wurde, dass mehr als die Hälfte der US-Psychiater, die an der ADHS-Leitlinie beteiligt waren, Honorare von Pharmafirmen erhielten.

Unsere Gesellschaft muss sich fragen, welchen Grad an Bewegungsdrang und frei flottierender Aufmerksamkeit sie für erträglich hält", sagt Florian Heinen, Experte für Entwicklungsstörungen am Haunerschen Kinderspital der Universität München. "Die Grenzen werden immer enger gezogen. Weniger Freiräume zu lassen und Kinder damit als behandlungsbedürftig zu erklären, kann nicht sinnvoll sein."

© SZ vom 25.10.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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