Zeitdruck im Bachelor-Studium:"Menschen sind keine Lernmaschinen"

Lern- und Leistungsstörungen, Orientierungs- und Motivationsprobleme, finanzielle Sorgen: Viele Bachelor-Studenten haben ernsthafte Schwierigkeiten mit dem neuen System. Ein Psychologe erklärt, warum das so ist und was die Lage der Studierenden verbessern würde.

Christiane Bertelsmann

35 bis 40 Stunden Arbeit pro Woche, gerade mal drei Jahre Zeit bis zum Bachelor. In diesen drei Jahren gilt es, sogenannte Leistungspunkte zu sammeln - 180 insgesamt, 30 pro Semester. Von einer "Bildungshetze" spricht der Soziologe Tino Bargel. Eine 2010 im Auftrag des Bundesbildungsministeriums erschienene Studie, bei der Bargel Mitautor war, verdeutlicht, welchem Druck Bachelorstudenten ausgesetzt sind. Gut 70 Prozent plagen zudem Sorgen um ihre finanzielle Lage: Das Stundenpensum macht es vielen fast unmöglich, neben dem Studium zu jobben. Die SZ sprach mit dem Diplom-Psychologen Hans-Werner Rückert, Leiter der psychologischen Beratungsstelle der Freien Universität Berlin, über die psychischen Auswirkungen der Hochschulreform auf Studenten.

Lernstress

35 bis 40 Stunden Arbeit pro Woche, gerade mal drei Jahre Zeit bis zum Bachelor: Viele Studenten fühlen sich überfordert.

(Foto: iStockphoto)

SZ: Herr Rückert, mit welchen Problemen kommen die Studenten zu Ihnen?

Rückert: Vor allem mit Lern- und Leistungsstörungen, dicht gefolgt von Orientierungs- und Motivationsproblemen. Letztere äußern sich beispielsweise im Wunsch nach Fachwechsel oder mit den Überlegungen, das Studium abzubrechen. Die Zahl der Studienabbrecher im Bachelor-Studiengang ist eindeutig höher, als sie bei Diplom- oder Magisterabschluss war. Außerdem kämpfen Studenten mit Depressionen und Prüfungsängsten oder suchen nach Möglichkeiten, eine Therapie zu machen.

SZ: Hat das durch das neue System zugenommen?

Rückert: Es gibt neue Probleme, und es gibt Probleme, die schon immer da waren. Die Studenten sind in der Phase der Spätadoleszenz. Das ist eine sehr dynamische Lebensphase. Die prinzipielle Frage, der man sich stellt, lautet: Wie und wo will ich leben, wie bin ich? Da kann es zu Krisen kommen. Die zu durchlaufen, ist für die persönliche Entwicklung richtig und wichtig. Was aber neu ist: Durch das beschleunigte Studium herrscht im Hochschulsystem Druck, und der erzeugt Angst und Verunsicherung. In Zahlen ausgedrückt: 20 Prozent der Studenten kommen gut mit dem neuen System zurecht, 40 bis 50 Prozent sind verunsichert und versuchen, irgendwie Schritt zu halten. Weitere 30 bis 40 Prozent haben ernsthafte Schwierigkeiten.

SZ: Wie können da Beratungsstellen helfen?

Rückert: Kürzlich kam eine Studentin zu mir, die täglich sechs Stunden an der Uni und weitere acht Stunden zu Hause lernte. Sie war mit ihrem Lernpensum nicht zufrieden und fragte mich nach Möglichkeiten, wie sie länger durchhalten könne. Da muss man erst mal klarmachen, was hinter diesem Lernzwang steckt: Ängste. Beim Überwinden der Ängste hilft mehr zu lernen nur bedingt.

SZ: Was ist Ihr Rat in so einem Fall?

Rückert: Wir versuchen, die Studenten in ihren Ängsten aufzufangen. Viele hoffen auf ein Patentrezept, aber das gibt es nicht. Natürlich bieten wir Kurse an, bei denen man lernt, Texte schneller zu lesen, oder Zeitmanagement, Entspannungstraining. Noch wichtiger ist es aber zu begreifen: Krisen fühlen sich unangenehm an, sind aber unvermeidlich und bieten Chancen. Als Selbstschutz vor psychischen Belastungen ist eine gute Work-Life-Balance unabdingbar. Und zwar schon im Studium, nicht erst im Beruf als Schutz vor dem Burn-out.

SZ: Woran liegt es, dass Studenten heute unter stärkerem psychischen Druck stehen als vor der Reform?

Rückert: Das neue System lässt kaum Freiräume. Vor der Reform diente das erste Semester dazu, sich zu orientieren. Das ist vorbei. Heute ist eine Anmeldung zur Lehrveranstaltung eine Anmeldung zur Prüfung. Jede Studienleistung ist examensrelevant und wird geprüft. Der Prüfungsdruck begleitet einen durchs ganze Studium, wird zur Dauerbelastung. Und er begünstigt leider Bulimie-Lernen.

SZ: Was bedeutet die Reform für die Dozenten?

Rückert: Gerade auf junge Dozenten kommt ein Mehraufwand an Prüfungen, an Korrekturen von Klausuren zu. Die Reibungsfläche mit den Studenten wird größer: Ich habe eine 2,3 bekommen, finde aber, ich hätte eine 1,7 verdient. So gehen die Diskussionen. Denn jede Note fließt ja in die Abschlussbewertung ein. Bachelor-Studiengänge brauchen dringend eine intensivere akademische Betreuung. Ich sehe da zwei Möglichkeiten: Das englische Modell mit den persönlichen Tutoren oder das Modell aus den USA, dort gibt es wesentlich mehr Psychologen an Hochschulen.

SZ: Ihre Verbesserungsvorschläge?

Rückert: Menschen sind keine Lernmaschinen. Nicht jede Studienleistung sollte abgeprüft werden müssen, das würde schon viel Druck nehmen. Ich plädiere außerdem für "Reading Weeks" wie in Großbritannien, das wären zwei Wochen pro Semester, in denen die Studenten für sich frei arbeiten können. Eine Betreuung in kleineren Gruppen würde viel verbessern. Oder Lernzentren: Dort könnte man lernen, wie man richtig lernt und wissenschaftlich arbeitet.

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