Finanzminister Mehmet Simsek im Gespräch:"Die Türkei wäre für die EU ein Bonbon"

Die Türkei will in die Europäische Union - und der türkische Finanzminister Mehmet Simsek will sich von den europäischen Werte inspirieren lassen, um die Demokratie in seinem Land zu festigen. Aber es gibt noch viel zu tun.

Alina Fichter

Dass Mehmet Simsek hier sitzt, einen Teller honigsüße Baklava neben sich, die Ahnengalerie der türkischen Finanzminister hinter sich und ein Dutzend internationaler Journalisten vor sich, ist ein kleines Wunder. Der 44-Jährige war als jüngstes von neun Kindern in einer bettelarmen Gegend der Osttürkei aufgewachsen, sein Vater Kurde, Ziegenhirte, Analphabet. Simsek schaffte es dennoch bis an die ferne Universität in Ankara, bald sogar bis nach London; dort machte er eine steile Karriere bei der Bank Merrill Lynch. Bis 2007, da verzichtete er auf die Hälfte seines Gehaltes und kehrte zurück in die Türkei: als Finanzminister unter Premier Tayyip Erdogan.

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Mehmet Simsek, der türkische Finanzminister, verfolgt eine klare Linie.

(Foto: Bloomberg)

SZ: Herr Simsek, die Europäische Union steckt tief in der Krise. Warum wollen Sie ihr trotzdem unbedingt beitreten?

Simsek: Eine Alternative zur EU gibt es für uns nicht. Wir brauchen sie, um auf unserem Weg politischer und wirtschaftlicher Reformen voranzukommen.

SZ: Die Türkei kann sich doch auch ohne die EU weiterentwickeln.

Simsek: Der Reformdruck, der durch die Beitrittsperspektive entstand, war einer der Hauptmotoren für den Wandel. Daher ist die Geschwindigkeit des Fortschrittes stark zurückgegangen, seit die Verhandlungen ins Stocken gerieten.

SZ: Sie stecken in der Sackgasse.

Simsek: Glauben Sie mir, würden uns die 27 EU-Länder heute eine echte Perspektive bieten, würden alle ausstehenden Kapitel morgen angepackt.

SZ: Ankara wird seit zwölf Jahren vertröstet. Sehen Sie sich jetzt auch anderswo nach Bündnissen um?

Simsek: Sie meinen in der arabischen Welt? Nein, trotz des Widerstandes bestimmter Kreise in der EU sind es die europäischen Werte, von denen wir uns inspirieren lassen wollen, um die Demokratie zu festigen. Wir bleiben dran.

SZ: Mal ehrlich: Warum sollte die EU jetzt weitere Länder aufnehmen? Sie hat genug mit sich zu tun.

Simsek: Studien haben bewiesen, dass die Bürger im Schnitt wirtschaftlich von der Erweiterung profitiert haben. Außerdem bin ich davon überzeugt, dass die EU uns ebenso braucht wie wir sie.

SZ: Wie meinen Sie das?

Simsek: Erstens ist die Türkei die sechstgrößte Wirtschaft Europas, bald dürften wir zu den Top Drei gehören. Zweitens sind wir sehr gut im Mittleren Osten, Afrika, Zentralasien und auf dem Balkan vernetzt. Will Europa künftig wirtschaftliches und politisches Gewicht in der Welt haben, braucht es uns.

SZ: Das müssen Sie erklären.

Simsek: Das Wirtschaftswachstum der EU verliert an Kraft, die Türkei brächte neue Dynamik rein. Außerdem gibt es Probleme, die niemand allein lösen kann: der internationale Terrorismus, die Energiesicherheit. Da ist die Zusammenarbeit aller Nationen gefordert.

SZ: Aber doch nicht im EU-Rahmen.

Simsek: Die EU kann es sich nicht leisten, die Türkei links liegen zu lassen. Und fair wäre es auch nicht.

SZ: Sie klingen gekränkt.

Simsek: Ich glaube weiterhin fest an den Beitritt. Spätestens wenn sich unsere Wirtschaftsleistung pro Kopf an die der EU annähert, wird sich der Blick auf die Türkei verändern.

SZ: Selbst wenn, zentrale Kritikpunkte, etwa die Kurdenfrage, sind ungelöst.

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"Wir bleiben dran": Für die Türkei gibt es keine Alternative zum EU-Beitritt.

(Foto: ddp)

Simsek: Wir sind längst nicht da, wo wir hin wollen. Eine Türkei, die der EU beitreten würde, sähe anders aus als die heutige: moderner. Wie wandlungsfähig wir sind, haben wir in der vergangenen Dekade gezeigt. Auch die Finanzkrise 2008 war ein Beweis unserer Widerstandsfähigkeit. Die Türkei wäre für die Europäische Union ein Bonbon, keine Bürde.

SZ: Wo sehen Sie die größten wirtschaftlichen Herausforderungen?

Simsek: Der Arbeitsmarkt ist zu unflexibel. Zudem ist die informelle Ökonomie stark verbreitet, wie in vielen Schwellenländern, dadurch verlieren wir Steuern und büßen an Innovationskraft ein. Und wir müssen das Investitions- und Geschäftsklima verbessern.

SZ: Wie sieht es bei Schuldenstand und Defizitquote aus - den beiden Reizwörtern innerhalb der EU?

Simsek: Da stehen wir viel besser da als die meisten europäischen Länder: Unser Schuldenstand liegt bei etwa 40 Prozent, die Stabilitätskriterien von Maastricht erlauben 60. Und das Defizit liegt unter zwei Prozent.

SZ: Gratuliere. Zurück zu den Gefahren für das türkische Wachstum.

Simsek: Wir müssen vor allem das viel zu hohe Leistungsbilanzdefizit bekämpfen, es wird in diesem Jahr etwa 75 Milliarden Dollar betragen, also über zehn Prozent der Wirtschaftsleistung.

SZ: Woran liegt das?

Simsek: Es ist vor allem die Binnennachfrage, die die türkische Wirtschaft wachsen lässt, im ersten Halbjahr um 10,2 Prozent. Aber wir exportieren zu wenig, dann brach auch noch die Nachfrage aus den EU-Ländern ein, die unsere Hauptabnehmer sind. Zuletzt hat der arabische Frühling, der uns zwar langfristig neue Chancen eröffnet, vorübergehend die Märkte betäubt, auf denen wir immer Überschüsse machten.

SZ: Was tun Sie gegen das Leistungsbilanzdefizit?

Simsek: Einiges wird sich von selbst lösen: Der Ölpreis dürfte bei einer erneuten Rezession sinken, die Lage in den arabischen Ländern wird sich wohl bald stabilisieren. Nur was die Nachfrage aus der EU angeht - da mache ich mir keine große Hoffnung auf Besserung.

SZ: Was ist mit den Sorgen, die sich nicht von selbst lösen?

Simsek: Wir fördern beispielsweise grüne Energien, um unabhängiger von importiertem Öl und Gas zu werden. Neulich, als ich mit Präsident Abdullah Gül Stuttgart besuchte, bestätigten die Ingenieure dort der Türkei ein großes Potential für Solarkraft. Auch Windenergie, Biothermik und - ich weiß, das hören die Deutschen nicht gerne - die Atomkraft wollen wir ausbauen.

SZ: Was wollen Sie abgesehen vom Energiesektor tun?

Simsek: Die Türkei muss die Wertschöpfungskette hochklettern: Hierzulande werden viele Textilien hergestellt, aber eine Krawatte kostet nicht mal fünf Dollar, wenn man sie in einem türkischen Geschäft erwirbt - während sie in einem italienischen Modehaus für über 100 Dollar verkauft wird. Grund dafür ist das Markenbewusstsein der Menschen. Wir müssen daher beginnen, nicht nur Stoffe herzustellen, sondern auch das Design hier zu machen und eigene Marken zu entwickeln. Das dauert natürlich. Eine Möglichkeit ist es, bereits etablierte Marken zu kaufen - wie Grundig Intermedia, das von einem türkischen Elektronikhersteller erworben wurde.

SZ: Was bedeutet eine erneute Rezession in Europa für die Türkei?

Simsek: Das Wirtschaftswachstum würde abkühlen. Das ist aber nicht dramatisch, solange die Landung sanft ist.

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