Wohnen in der Region München:"Die" und "wir"

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In ihren Wohnort kommen sie nur, um zu Schlafen - oder am Wochenende ihre Ruhe zu haben. Der massive Zuzug nach München verändert die Kommunen im S-Bahn-Bereich - nur wenige bewahren ihren früheren Charakter.

Martin Bernstein

Die", hat der Bürgermeister der Münchner Stadtrandgemeinde Bergkirchen vor ein paar Jahren im Gespräch offen bekannt, "die sollen sich doch an uns anpassen." Gemeint hat er die Zuzügler in seiner 7000-Einwohner-Kommune. "Die" arbeiten in München oder in der Region. In ihren Wohnort kommen sie zum Schlafen. Und um am Wochenende ihre Ruhe zu haben. Deshalb sind sie noch immer "die", manche sind es bewusst und gerne, andere leiden darunter.

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Der Großraum München wächst, Mieten und Immobilienpreise explodieren. Wo und wie hier Wohnraum geschaffen werden kann, ist eines der drängendsten Themen der Region. Ein Überblick über die Situation gestern und heute. In Bildern.

Diejenigen, die irgendwann zum "wir" gehören wollen, passen sich an, wie das erwartet wird. Sie spenden für den Burschenverein, trainieren die Buben der F-Jugend, sind die ersten beim Maibaumaufstellen und die letzten beim Biertischabbau. Anpassen oder verändern?

Viele Kommunen im S-Bahn-Bereich sind ehemalige Dörfer, die irgendwann einmal aus dem Leim gegangen sind, gemästet vom Speckgürtel. Manche kämpfen dagegen, andere ergeben sich ihrem Schicksal. Und wieder andere planen so ausdauernd, bis der Bevölkerungsdruck sie ein- und überholt und irgendwann nichts mehr übrig lässt, was sich noch planen ließe. An manchen Stellen schaut's in Oberbayerns guter Stube aus wie im Kreis Mettmann. Viel vorzugsweise dunkelbraun gestrichenes Balkenholz vor der Hütte soll dann noch irgendwie Heimatverbundenheit symbolisieren.

Eine Fahrt auf A 99, B 471 und diversen Schleichwegen zu den Kollateralschäden des München-Booms könnte in Kirchheim beginnen. Kirchheim ist schon deshalb bemerkenswert, weil es zwar ein liebevoll restauriertes Bajuwarendorf besitzt, aber auch nach jahrelangen Debatten kein neues Ortszentrum. Ausgeschildert sind ein Jugend- und ein Einkaufszentrum. Doch ein Schild ins Zentrum der 12 500-Einwohner-Gemeinde? Fehlanzeige. Irgendwann ist man in einer Dorfstraße, mit Kirche, Maibaum, alten Häusern. Ein paar hundert Menschen wohnten dort im Jahr 1960. Zwischenzeitlich gab es Pläne für 15.000 Einwohner, sogar 30.000 schienen möglich.

Doch immer mehr Menschen im Umland sagen nein zu einem Wachstum um jeden Preis. Qualität statt Quantität, sagen sie. Sie wehren sich gegen Neubaugebiete auf der grünen Wiese und freuen sich, dass aus dem Autobahnsüdring erst einmal nichts wird. Oft kämpfen sie gegen Windmühlen. Und manchmal auch gegen Windräder, um die neue Heimat vor Verschandelung zu bewahren.

2000 Bauanträge pro Jahr im Landkreis München, ein prognostiziertes jährliches Bevölkerungswachstum von einem Prozent: Das klingt zunächst einmal nicht sehr bedrohlich in einem Landkreis mit 330.000 Einwohnern. Doch die Zahlen sind ungleich verteilt. Taufkirchen beispielsweise hatte 1970 rund 3300 Einwohner, 30 Jahre später waren es 18.000. Zwei Bilder auf der Homepage der Gemeinde: Zeigen sie tatsächlich denselben Ort? Ein Bauerndorf am Hachinger Bach, wer mag, kann die Hofstellen zählen - und ein weiter Blick der Webcam über das Häusermeer bis hinüber zu den Hochhäusern der Wohnanlage am Wald. Vier historische Bauernhöfe und ein Wirtshaus immerhin haben laut Denkmalliste den Wandel überstanden.

Aubing, Lochhausen, Langwied - vor fast 80 Jahren eingemeindet, bilden sie zusammen den größten Stadtbezirk Münchens. Wer durch die Altostraße in Aubing fährt, wer vom Lochhauser Kircherl in die Aubinger Lohe wandert, wer im Landgasthof in Langwied sein Bier trinkt, der könnte glauben, Zeuge einer Gegenbewegung zu sein: Wie nämlich das Land in der Millionenstadt selbstbewusst seinen Platz behauptet. Und wer verfolgt, wie die Aubinger dafür kämpfen, dass ihr alter Dorfkern ein denkmalgeschütztes Ensemble bleiben darf, der könnte meinen, dass zumindest dort von "wir" und "die" keine Rede sein kann.

Doch zum Stadtbezirk gehört auch Freiham, vor ein paar Jahren nur der Name eines Gutshofs am westlichen Stadtrand, mit Schloss, Biergarten, naturgeschützten Alleen. Heute gibt es zwei Autobahnausfahrten, die den Namen Freiham tragen. Eine gläserne Pyramide wächst empor, Münchens jüngstes Heizkraftwerk. Eine Bautafel zeigt, wofür das alles ist: 20.000 Menschen sollen einmal dort auf der heute noch grünen Wiese wohnen.

Fast so viele sind es jetzt schon in Karlsfeld. Vor 200 Jahren waren es Kolonisten aus dem Rheinland und der Oberpfalz, die sich im Moor nördlich von München niederließen. 150 Jahre lang tat sich städtebaulich nicht allzu viel. Dann kamen die Flüchtlinge, auch aus dem zerbombten München. Im Moos schossen die Schwarzbauten in die Höhe. Der Wildwuchs besteht bis heute. Vier, fünf getrennte Siedlungsschwerpunkte lassen dazwischen 22 Hektar Platz für weitere 6000 Menschen. Was es in Karlsfeld nicht gibt, ist ein Ortszentrum. Früher war in der Mitte eine grüne Wiese. Dann kam und ging ein Investor. Heute ist Karlsfeld die vermutlich einzige große Kommune in der Region, die als Ortskern eine Baugrube besitzt.

In und um München gibt es ehemalige Bauerndörfer, die zielstrebig zur Stadt wurden, wie etwa Germering oder Garching. Es gibt Dörfer, die sich ihren alten Kern bewahrten, auch wenn die Hoch- und Reihenhäuser dem schon ganz dicht auf die Pelle gerückt sind. Es gibt Gartenstädte wie Gröbenzell oder Gräfelfing. Es gibt Orte, die das alles sein wollten und deswegen nichts davon wurden.

Und es gibt noch immer veritable Bauerndörfer, in denen es nach Stall riecht und die Hühner gackern. Neubürger sind in Bergkirchen in den vergangenen Jahren, vielleicht mangels S-Bahn-Anschluss, kaum dazugekommen. Aber eine Kinderkrippe gibt es inzwischen, auf die der Bürgermeister ziemlich stolz ist. Münchner beneiden ihre Freunde vom Land um die Betreuungsmöglichkeiten.

Jugendtreffs? Selbstverständlich. Plätze im Montessori-Kindergarten? Aber natürlich. Eine Breitbandinitiative gibt es und ein Hoftheater. Sogar ein neuer Ortsteil ist entstanden: Gada - was Gewerbegebiet an der Autobahn bedeutet, aber schöner klingt, als es aussieht. Man passt sich halt an, zwangsläufig. Und das verändert die Region.

© SZ vom 30.11.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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