Falsche Nachkriegserinnerungen:Der Schnee von gestern

Dichtung, Wahrheit, Welterfolg: Das Nachkriegsdrama So weit die Füße tragen war auch deshalb so beliebt, weil ihm eine wahre Geschichte zugrunde lag. Ein Radiofeature bezweifelt deren Echtheit.

S. Fischer

Der Roman war ein Bestseller, seine Verfilmung zu einer sechsteiligen Fernsehserie ein Straßenfeger. Sie passte perfekt in jene Zeit, diese Geschichte einer Flucht aus russischer Kriegsgefangenschaft und der drei Jahre währenden Odyssee des Wehrmachtssoldaten Clemens Forell bis zur Heimkehr nach München: So weit die Füße tragen, 1955 im Münchner Ehrenwirth Verlag erschienen und 1959 von Fritz Umgelter verfilmt, war der größte Erfolg des Schriftstellers Josef Martin Bauer.

Das Entlastungsbedürfnis der Nachkriegsgesellschaft

Der Erfolg war auch deshalb so groß, weil Bauers Werk eine vermeintlich wahre Geschichte zugrunde lag. Wie wichtig das Authentische in dieser Art Erlebnisliteratur war, verdeutlichen viele Kritiken über den Roman, die sehr auf die Wahrhaftigkeit der Handlung rekurieren. So weit die Füße tragen hat geholfen, das Entlastungsbedürfnis der Nachkriegsgesellschaft zu stillen. Nun, mehr als ein halbes Jahrhundert später, sät Arthur Dittlmann in seinem hervorragenden Radio-Feature So weit die Füße tragen. Dichtung, Wahrheit und ein Welterfolg Zweifel an der Echtheit des Abenteuers (Bayern2, Karfreitag, Ostersonntag und -montag, jeweils 12.05Uhr in der Reihe Zeit für Bayern).

Die Identität des Soldaten, von dessen Flucht So weit die Füße tragen erzählt, war über Jahrzehnte nur wenigen bekannt. 2001 hat Martin Ehrenwirth sie gegenüber dem Rundfunk-Journalisten Arthur Dittlmann preisgegeben, als dieser für eine Sendung zum 100.Geburtstag von Josef Martin Bauer recherchierte. Martin Ehrenwirth ist der Sohn von Franz Ehrenwirth, der So weit die Füße tragen vor mehr als 50 Jahren verlegt hat. Die Geschichte dieser Veröffentlichung ist so spannend und auch vertrackt, dass Dittlmann sie jetzt in seinem Dreiteiler so präzise wie möglich rekonstruiert.

Hinter der Romanfigur Clemens Forell verbirgt sich Cornelius Rost, 1919 in Kufstein geboren und vor sowie nach seiner Rückkehr aus dem Krieg bis zum Tod 1983 in München lebend. 1953 hat Rost in der Druckerei von Franz Ehrenwirth gearbeitet; er hatte vor dem Krieg Reproduktionstechniker gelernt. Der Verleger zitierte den Arbeiter zu sich, nachdem dieser zum wiederholten Mal Buchumschläge verdruckt hatte - so erzählt es Martin Ehrenwirth. Rost habe daraufhin eingestanden, farbenblind zu sein. Sein Vater, so Martin Ehrenwirth gegenüber Dittlmann, habe nachgebohrt, wie das seine Art gewesen sei, wenn ihn jemand interessierte. Also habe Cornelius Rost ihm von seiner Arbeit in einem Bleibergwerk während der Kriegsgefangenschaft erzählt und auf welchem beschwerlichen Irrweg er in die Heimat zurückgekehrt sei.

Was ist Tatsache, was Fiktion?

Franz Ehrenwirth hat seinen Angestellten daraufhin aufgefordert, das Abenteuer seiner Gefangenschaft und seiner Flucht gegen ein kleines Honorar aufzuschreiben. Was Rost schließlich vorlegte, habe indes klar gemacht, dass er schriftstellerisch dazu nicht in der Lage war. Ehrenwirth hatte jedoch weiterhin ein Gespür dafür, dass er mit diesem Stoff dem Markt liefern könne, wonach dieser verlange. Schließlich wurde er sich mit Rost und dem Schriftsteller Josef Martin Bauer handelseinig: Rost sollte, befragt von Bauer, Tonbänder mit der Geschichte seiner Gefangennahme, Gefangenschaft und Flucht besprechen, auf Grundlage dieser Aufnahmen würde Bauer dann den Tatsachenroman schreiben.

Diese Tonbänder haben sich erhalten, sie wurden über die Jahre von der ehemaligen Verlegerfamilie Ehrenwirth verwahrt - und schließlich Arthur Dittlmann zur Verfügung gestellt. Sie sind eines der Fundamente, auf die sich der akribische Rundfunkjournalist in dem dreistündigen Feature stützt; er hat aus dem achtstündigen Material längere Passagen in seine Sendung eingearbeitet. Die beiden Urheber von So weit die Füße tragen sind also erstmals öffentlich im Originalton zu hören. Diese Tonbänder hat Martin Ehrenwirth inzwischen dem Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in München überlassen.

Die eigentliche, mühsamere Arbeit Dittlmanns bestand darin, mehr über Cornelius Rost herauszufinden und darüber, was an So weit die Füße tragen Tatsachen entspricht und was Fiktion ist. Dabei hat ihm unter vielen anderen Jürgen Zarusky geholfen, Historiker am IfZ. Er formuliert im Feature einige der Zweifel an der Glaubwürdigkeit von dem, was Cornelius Rost auf Band gesprochen hat.

Es scheint zumindest fragwürdig

Rost gibt etwa an, in einem Lager am Kap Deschnjow im äußersten Osten der Sowjetunion inhaftiert gewesen zu sein - so ein Lager habe bis zum Herbst 1949, jene Zeit, für die Rost seine Flucht angibt, dort aber nicht existiert, sagt Zarusky. Auch gibt Rost die Zeit des großen Gefangenenmarsches durch Moskau falsch an und behauptet, auf dem Newski Prospekt am Kreml vorbeigeführt worden zu sein. Der Newski Prospekt ist die Hauptstraße von St.Petersburg. Rosts dürre Russischkenntnisse und die Art, wie er einen armenischen Juden schildert, der sein Retter gewesen sein soll, ließe seine Flucht zumindest fragwürdig erscheinen.

Wahrscheinlich ist, dass Rost seine Erlebnisse in der Kriegsgefangenschaft mit vielem, was er vom Hörensagen kannte, zu dieser Saga versponnen hat. Dieser Nachkriegslegende auf den Grund gegangen zu sein, ist Arthur Dittlmanns großes Verdienst.

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