Digitale Lebenschronik:Timeline-Zwang für Facebook-Nutzer

In wenigen Tagen müssen alle Facebook-Nutzer die umstrittene Chronik "Timeline" verwenden - ob sie wollen oder nicht. Die Mitglieder sollen so ein hübscheres Profil erhalten, doch in der Realität dürften vor allem Facebooks Werbekunden profitieren.

Johannes Boie

Es ist ein bisschen wie in den Gangsterfilmen, wenn der Böse dem Guten die Waffe in den Bauch drückt und sagt: "Sie haben die Wahl: Entweder so wie ich will, oder ..."

Facebook macht seine umstrittene 'Chronik' zur Pflicht

Facebook-Gründer bei der Vorstellung der Timeline im Herbst 2011: Vision einer vernetzten Welt.

(Foto: dapd)

Facebook, das größte soziale Netzwerk im Internet, hat seinen 800 Millionen Nutzern in diesem Sinne die Wahl gelassen. Erst erklärte der Konzern, dass jeder, der Facebook nütze, sich für oder gegen eine neue, umstrittene Funktion entscheiden könne.

Jetzt aber hat das Unternehmen wie nebenbei in einem Blogbeitrag auf der offiziellen Firmenseite bekannt gegeben: Diese neue Funktion, die sogenannte Timeline, wird in den nächsten Tagen bei jedem Nutzer installiert - ob er will oder nicht. Bleibt die Frage: Was ist das für eine Waffe, die Facebook seinen Kunden da in den Bauch drückt? Und: Wie gefährlich ist sie?

Eingeordnet in die Lebenschronik

Für den Nutzer ändert sich mit aktivierter Timeline zunächst mal nur das Layout der Webseite - alles sieht ein bisschen schöner aus. Dahinter verbirgt sich jedoch Facebooks Ansinnen, künftig jede Aktion von jedem Nutzer - zum Beispiel eine Nachricht an Freunde, eine veröffentlichte Reise oder ein ins Netz gestelltes Foto, in eine lebenslange Chronologie einzuordnen.

So entsteht eine Lebenschronik von jedem einzelnen Facebook-Kunden, einsehbar je nach Datenschutzeinstellung, nur für Freunde oder für die ganze Welt. Wo war Nutzer X im Oktober 2010? Wann gab Nutzer Y die Geburt seinen Sohnes bekannt? Der Konzern fordert so seine Nutzer auf, künftig ihr gesamtes Leben zu speichern.

Niemals zuvor hat es einen weiter reichenden Versuch gegeben, den gläsernen Menschen zu schaffen. Bereits heute laden die Nutzer täglich 250 Millionen Bilder auf Facebook hoch, mehr als die Hälfte dieser Menschen verwenden die Webseite täglich.

Transparenter als je zuvor

Viele von ihnen synchronisieren bereits heute freiwillig ihr digitales Facebook-Profil im Minutentakt mit ihrem realen Leben, indem sie zum Beispiel automatisiert veröffentlichen, wo sie sich gerade befinden. Die chronologische Übersicht macht das Leben der Nutzer transparenter, als es ohnehin war: Etwa für Facebooks Werbekunden, die den dort registrierten Menschen stets das Produkt anbieten können, das sie gerade angeblich benötigen oder - künftig dank Timeline - schon einmal besessen haben.

In der Einführungsperiode hat jeder Nutzer zwar sieben Tage lang die Möglichkeit, die eigene Timeline auf Einträge zu prüfen, die er lieber noch löschen möchte. Dann schaltet Facebook die Timeline für andere Nutzer im Netzwerk frei.

Auch später noch hat der Nutzer die Möglichkeit, Einträge vor allen oder bestimmten Facebook-Nutzern zu verstecken. Doch wirklich löschen kann er nichts. Wer ein bestimmtes Bild aus dem eigenen Profil entfernt, markiert es wohl lediglich als unsichtbar. Das bedeutet nicht, dass es tatsächlich von Facebooks Großcomputern verschwindet.

Auch Google vereinheitlicht Profil

In Europa besorgt die Erweiterung viele Menschen. Zuletzt rügte EU-Kommissarin Viviane Reding Facebook wegen mangelhafter Datenschutzpolitik. Die Entwickler zeigen sich unbeeindruckt. Gründer und Chef Mark Zuckerberg betont gerne, er arbeite an der Vision einer vernetzten Welt. Da ist wenig Platz für vermeintlich kleinliche Bedenken.

Facebook erringt mit der Entwicklung auch einen Sieg im Konkurrenzkampf mit Google. Die Firma hat jetzt - Facebook nicht unähnlich - im Firmenblog angekündigt, zahlreiche weitere Funktionen auf einzelne Nutzer zuzuschneiden. Auch dieser Schritt wird von Datenschützern kritisiert.

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