Medikamente für Senioren:Alt, krank und falsch behandelt

Zwölf Medikamente in 19 Dosierungen zu fünf verschiedenen Tageszeiten: Etliche Senioren bekommen viele und noch dazu ungeeignete Medikamente. Dabei gibt es längst eindeutige Empfehlungen und Alternativen für jene Pillen, die alte Menschen gefährden.

Werner Bartens

Alte Menschen sind in den meisten Kliniken die größte Patientengruppe. Aus Sicht der Ärzte haben sie allerdings komplizierte Eigenschaften: Sie werden häufiger krank als junge, leiden oft an mehreren Gebrechen gleichzeitig, und sie erholen sich langsamer von einer Krankheit. Die Medizin hat sich aber bisher nur unzureichend auf diese Klientel eingestellt: Die Leitlinien und Therapie-Empfehlungen berücksichtigen kaum, dass alte Menschen anders leiden und anders krank sind als junge. Wie eine Untersuchung im Deutschen Ärzteblatt vom heutigen Freitag zeigt, verordnen viele Ärzte Pharmaka, die für Senioren ungeeignet sind (Bd. 109, S. 69, 2012).

Etliche Medikamente helfen Erwachsenen im mittleren Alter, tun aber Menschen jenseits der 65 nicht gut. Häufig ist schlicht noch nicht erforscht, wie verschiedene Arzneimittel mit- und gegeneinander wirken, wenn sie kombiniert werden müssen. Denn alte Menschen haben eine eingeschränkte Nieren- und Leberfunktion und bauen die Pharmaka schlechter ab. Sammelt sich der Stoff im Körper, verstärken sich die Nebenwirkungen. Zudem sind Senioren anfälliger für Stoffe, die Verwirrung, Desorientierung und Schwindel auslösen. Dadurch steigt die Sturzgefahr mit der gefährlichen Komplikation eines Oberschenkelhalsbruches, der viele alte Menschen wochenlang ans Bett fesselt und womöglich das Ende ihrer Mobilität bedeutet.

Ein Viertel aller Senioren bekommt mindestens eine ungeeignete Pille pro Jahr

Erst seit wenigen Jahren haben sich Mediziner und Pharmakologen des Problems angenommen und die sogenannte Priscus-Liste erstellt, die im August 2010 im Deutschen Ärzteblatt publiziert wurde. Priscus ist der lateinische Begriff für "alt" und "ehrwürdig". In der Liste sind 83 Arzneistoffe aufgeführt, die als potentiell unangemessen für ältere Patienten bewertet werden. Aktuell haben Sozialmediziner der Universität Bremen um Ute Amann und Edeltraut Garbe die Daten von mehr als 800.000 Patienten aus dem Jahr 2007 analysiert. Die Kranken waren alle älter als 65 Jahre und trotzdem bekamen 25 Prozent von ihnen mindestens einmal jährlich ein Medikament verordnet, das dieser Altersgruppe nicht guttut. 8,8 Prozent der älteren Patienten erhielten sogar mindestens viermal pro Jahr potentiell schädliche Mittel verschrieben.

Ältere Frauen erhielten mit 32 im Vergleich zu 23 Prozent deutlich häufiger unpassende Medikamente als Männer. Besonders aus der Arzneigruppe der Schlaf- und Beruhigungsmittel, der Neuroleptika und der Medikamente gegen Herzschwäche wurden ungeeignete Pharmaka verordnet. So kann das oft Senioren verordnete Antidepressivum Amitriptylin bei ihnen leicht zu Kreislaufschwäche und Herzrhythmusstörungen führen. Das ebenfalls häufig verschriebene Acetyldigoxin, ein Mittel gegen Rhythmusstörungen, wirkt im Alter toxischer. Die Beruhigungsmittel Tetrazepam und Oxazepam erhöhen die Sturzgefahr, verzögern die Reaktionsgeschwindigkeit und führen zu Verwirrung.

Dabei gibt es Abhilfe. Die Priscus-Liste führt für jedes der fragwürdigen Mittel alternative Behandlungsformen auf. Und wenn ein nicht so geeignetes Mittel trotzdem gegeben wird, informiert sie über hilfreiche Begleitmittel oder darüber, welche Laborkontrollen wichtig sind. "Unsere Priscus-Medikamentenempfehlungen sind als Hilfestellung und zur Unterstützung von Ärzten und Apothekern gedacht", sagt Petra Thürmann, Klinische Pharmakologin am Klinikum Wuppertal und Dozentin an der Universität Witten/Herdecke. "Auch wenn die Liste nicht vollständig ist und eine auf den einzelnen Patienten bezogene Nutzen-Risiko-Abwägung nicht ersetzt, wollen wir damit auf die besonderen Probleme in der Arzneimitteltherapie älterer Menschen aufmerksam machen."

Wenn Medikamentenwirkungen sich konterkarieren

Mediziner der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore hatten vor einigen Jahren bereits beispielhaft gezeigt, welche absurden Folgen es in der Praxis hätte, würden Ärzte nicht beachten, was älteren Patienten guttut: Die Forscher beschrieben in ihrem Artikel eine typische 79-jährige Patientin, die an Diabetes, Bluthochdruck, chronischer Bronchitis, Osteoporose und Gelenkrheuma leidet, eine häufige Krankheitskombination in diesem Alter. Die Frau müsste zu fünf verschiedenen Tageszeiten zwölf Medikamente in 19 Dosierungen einnehmen.

Die unübersichtliche Vielzahl der Medikamente und Ratschläge ist besonders misslich, da sich viele Therapieempfehlungen widersprechen und den Patienten schaden können, wenn Einschränkungen für Senioren nicht berücksichtigt werden. Schwächt die Arznei gegen Gelenkrheuma die Wirkung der Tabletten gegen Bluthochdruck ab oder konterkarieren sich andere Arzneikombinationen, bringt das die Patienten unnötig in Gefahr.

Die Leitlinien der verschiedenen Fächer sind von Expertengremien zur Behandlung einzelner Krankheiten erstellt worden", sagt die Altersmedizinerin Cynthia Boyd. "Den Ärzten, die es mit alten Menschen zu tun haben, die an mehreren Krankheiten leiden, ist damit aber nur wenig geholfen." Das Problem ist allerdings methodischer Art, denn die gegenwärtige Medizin stützt sich auf klinische Studien, die sich nur bei Menschen mit nur einer Krankheit relativ einfach durchführen lassen.

Forschung wird zudem meist an Patienten mittleren Alters betrieben, obwohl die Mehrheit der Patienten alt ist und an mehreren Gebrechen leidet. Deshalb gibt es für die Mehrzahl der Kranken, nämlich die Alten, die Kinder (und auch die Frauen), wenige gesicherte Forschungsergebnisse.

Dass der Beispielfall aus der Fachzeitschrift realistisch ist, zeigt die demographische und gesundheitliche Entwicklung in den Industrienationen: In diesen Ländern klagt fast die Hälfte der Menschen jenseits der 65 über mindestens drei chronische Leiden. 20 Prozent dieser Altersgruppe haben sogar fünf oder mehr chronische Erkrankungen.

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