Interview mit Joachim Gauck:"Ich wollte kein Deutscher sein. Ich fand das so schmutzig"

Wie tickt Joachim Gauck? In einem langen SZ-Gespräch gab der mutmaßliche neue Bundespräsident 2010 umfassend Einblick in seine Gedankenwelt. Aus aktuellem Anlass: zeitlose Ansichten des Fünf-Parteien-Kandidaten über Patriotismus und Kapitalismus, über Thilo Sarrazin und die Medienmacht.

Oliver Das Gupta und Thorsten Denkler

Wie denkt Joachim Gauck über Präsidentenkritik, wie über Medienmacht? Was hält er wirklich von Thilo Sarrazin und vom Kapitalismus? Beging der Westen bei der Wiedervereinigung Fehler, und darf man stolz auf Deutschland sein? Zeitlose Fragen - beantwortet von Gauck im Oktober 2010, in einem langen Gespräch für die Internet-Ausgabe der SZ. Nun bekommen die Ansichten des designierten Bundespräsidenten neue Aktualität, auf Twitter wird das anderthalb Jahre alte Interview wieder empfohlen. Wir publizieren es aus aktuellem Anlass erneut: Einblicke in die Gedankenwelt des mutmaßlichen elften Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland - wie der Mann tickt, der das Land künftig vertritt.

Joachim Gauck; Foto: Regina Schmeken

Joachim Gauck im Vorfeld seiner ersten Präsidentenkandidatur im Sommer 2010.

(Foto: Regina Schmeken)

SZ: Herr Gauck, welches Deutschland wünschen Sie Ihrem Urenkel, wenn er in 20 Jahren erwachsen sein wird?

Joachim Gauck: Ich setze große Hoffnungen auf die nachwachsende Generation - dass sie aus diesem phasenweise negativen Nationalismus, also unbedingt kein Deutscher sein zu wollen, etwas Besseres macht. Dass es ein Ja gibt zu dem Raum und dem Ort, an dem man lebt, zu dem man ja sagen kann, weil es dafür gute Gründe gibt. Ich frage mich, wie lange wir Deutschen unsere Kultur des Verdrusses noch pflegen wollen.

SZ: Was muss sich dazu ändern?

Gauck: Die Leute müssen aus der Hängematte der Glückserwartung durch Genuss und Wohlstand aufstehen. Sie dürfen nicht erwarten, dass andere für sie agieren. Eine Gesellschaft wird umso zukunftsfähiger, je aktiver sich die Bürger darstellen. Die Hoffnung, dass wir durch Konsum allein glücklich werden und die Bürgerexistenz vernachlässigen können, die trügt.

SZ: In Ostdeutschland ist nur noch ein geringer Teil der Bevölkerung gläubig. Viele haben die Kirche verlassen. Ist das eine Folge der Konsumfixierung?

Gauck: Wir erleben in allen Industriegesellschaften, dass die traditionellen Bindungskräfte von Religionen schwach werden - und dass eine klassische Wertorientierung, wie sie das aufgeklärte Bürgertrum vertritt, ausdünnt. Es ist aber nicht ganz verlorengegangen.

SZ: Es geht uns zu gut?

Gauck: Es ist die Folge eines Lebens, das nicht mehr jeden Tag von neuem errungen ist. Das ist in Krisenzeiten oder Diktaturzeiten anders. Da braucht man einen Kern. Wenn es uns rundum gutgeht, ist die Herausforderung nicht so stark, sich definieren zu müssen. Das Leben vollzieht sich. Es ist angenehm, oft auch locker, unterhaltsam. Man merkt nur an bestimmten Bruchstellen: Es fehlt irgendwas. Es gibt in Wohlstandsgesellschaften das Gefühl, es ist alles okay, nur ich fühl' mich nicht okay. Es gibt einen Hunger nach Sinn.

SZ: Sind wir zu materialistisch?

Gauck: Ehrlich: Ja, das denke ich. Es liegt nicht nur an unserer Zeit - dass die Menschen schnellen Genuss wollen, um sich glücklich zu stellen, gehört zur dunklen Seite der menschlichen Existenz. Erich Fromm hat nach dem Kriege das Buch Furcht vor der Freiheit geschrieben. Er rät zu einem anderen Weg, zu einem Leben in Bezogenheit, in Solidarität, um einen abgegriffenen Ausdruck zu benutzen. Dabei sieht Fromm den Menschen nicht als Singulum, sondern als Zoon politicon.

SZ: Nach Aristoteles ist der Mensch dazu gemacht, in Gemeinschaft zu leben.

Gauck: Das zu begreifen, ist eine enorme Chance, glücklicher zu werden.

SZ: Wie bringen Sie das den Menschen bei, die Hartz IV empfangen und ihre Kinder nicht jeden Tag zur Schule bringen, weil sie keinen Sinn darin sehen?

Gauck: Erst einmal sage ich ihnen, dass es keine Tugend ist, wenn man dort sitzt, den ganzen Tag Zeit hat und den Gören kein Mittag macht. Das darf man auch kritisieren.

SZ: Das ist nicht der Punkt: Die Frage ist doch, wie man an diese Leute rankommt.

Gauck: Das kann Politik selten leisten. Das müssen Kumpels tun oder Leute, die in deren Nähe arbeiten. Neulich erzählte mir mein Fahrer von seinem Cousin, der mit den gesamten Sozialleistungen ungefähr 30 Euro weniger als er hat. Mein Fahrer muss aber fast immer um fünf Uhr aufstehen. Er sei der Dumme in der Familie, aber er sagte mir auch: "Ich kann das nicht, ich kann nicht so dasitzen." Da habe ich gesagt, dass er denen erzählen soll, wie gut er sich mit Arbeit fühlt. Wir sehen ja auch in den Kreisen der Hartz-IV-Empfänger Leute, die politisch aktiv sind und auf eine Demonstration gehen. In diesem Moment verändert sich schon ihr Leben. Sie zeigen Haltung. Das ist sehr viel wichtiger, als dafür zu sorgen, dass die Alimentierung immer rundum sicher ist.

"Die Politik fürchtet, dass die Bevölkerung die Wahrheit nicht erträgt"

SZ: Sie sagen: Die näheren Bezugspersonen müssen die Sozialhilfeempfänger motivieren. Aber ist das nicht doch eine Aufgabe der Politik?

Helmut Schmidt Gerhard Schröder Lafontaine Foto: Regina Schmeken

Ex-Kanzler Helmut Schmidt mit dem späteren Kanzler Gerhard Schröder im Jahre 1998. Im Hintergrund ist der damalige SPD-Vorsitzende und heutige Linkspartei-Politiker Oskar Lafontaine zu sehen.

(Foto: Regina Schmeken)

Gauck: Diese Leute hören der Politik gar nicht mehr zu. Da müssen wir realistisch bleiben. Die Politik hat ein großes Problem zurzeit: Das ist nicht so sehr, dass Politiker Fehler machen, das ist bei allen Menschen so - sondern, dass sie ihre Politik nicht ausreichend vermitteln können. Nicht einmal in den Kreis der Zeitungsleser und Nachrichtenhörer und Nachrichtengucker hinein.

SZ: Machen es die Politiker falsch oder können sie es nicht?

Gauck: Sie machen es falsch aus Furcht. Sie fürchten sich vor der Wahrheit und glauben, dass die Bevölkerung die Wahrheit nicht erträgt. Manchmal haben sie auch recht mit ihrer Furcht. Es kommt eben immer drauf an, auf welchen Teil des Wahlvolkes man blickt: auf jenen, der gerne Populisten folgt oder auf den anderen, der ein nüchternes Urteil fällt. Je nachdem ist ein Politiker mutiger oder feige.

SZ: Wir sind gespannt auf Ihre Beispiele.

Gauck: Peer Steinbrück traut sich auch mal etwas zu sagen, wo andere sich verschlucken würden. Heinz Buschkowsky spricht in der Integrationsfrage oft deutliche Worte, er fürchtet sich eben nicht. Und wird dann plötzlich auch verstanden. Andere umgehen Themen. Die wollen nicht reaktionär wirken - dann sprechen sie das Thema nicht mehr an. Und schon fängt es an, problematisch zu werden.

SZ: Sie haben den früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder gelobt für seine Arbeitsmarktreform. Er forcierte Neuwahlen - und verlor sein Amt. Brauchen wir heute Politik, die in der Gewissheit funktioniert, eventuell nicht wiedergewählt zu werden?

Gauck: Ja, die braucht es immer mal wieder.

SZ: Immer mal wieder?

Gauck: Ich bin ja nicht von gestern. Politiker wollen wiedergewählt werden. Aber diejenigen, die auch riskieren, nicht wiedergewählt zu werden, die ziehe ich vor. Der debattenfähige Teil der Bevölkerung erwartet, dass Politiker auch mal mutig sind. Zivilcourage ist jener Mut, der sich bewährt, wenn wir gegenüber unseren eigenen Freunden abweichende Meinungen vertreten.

SZ: Bedeutet Mut in der Politik auch, dass man mitunter eine Politik macht, die nicht dem Mehrheitswillen der Bevölkerung entspricht? Ist das überhaupt noch demokratisch?

Gauck: Natürlich. Mutige Politik offenbart die Anliegen. Und indem es offenbart wird, wird es mehrheitsfähig. Übrigens: Es ist ein Irrtum, zu glauben, Schröders Politik von Fördern und Fordern sei nicht in der Gesamtbevölkerung mehrheitsfähig gewesen. Der Erfolg war nur in der eigenen Partei und im eher linken Milieu begrenzt. Ein ähnliches Phänomen haben wir gesehen, als Helmut Schmidt Kanzler war und die Friedensbewegung den politischen Mainstream bestimmte. Das hat die SPD so stark geprägt, dass Schmidt mit seiner Position - wir müssen gegen das Imperium des Sowjetregimes Stärke zeigen - nicht mehr mehrheitsfähig war. Aber: Schmidt ist gestanden.

SZ: Hatte Schmidt mit seinem Einsatz für die Nachrüstung recht?

Gauck: Ja, er hat recht gehabt, und die Friedensbewegung unrecht. Damals galt es als Tugend, sich zu entfeinden - eine Haltung, die ich als Christ auch nachvollziehen kann. Aber töricht wäre zu glauben, es gäbe keine Feindschaft mehr.

"Das Land mag kapitalistisch sein, aber es ist lernfähig"

SZ: Gibt es 20 Jahre nach der Einheit Unterschiede zwischen Ost und West bei dem Wunsch, sich als Bürger jenseits des Rechts-links-Schemas zu fühlen und zu verhalten?

Palast der Republik DDR Regina Schmeken

"Wie kann man so blöd sein, zu glauben, dass eine solche Struktur lebensfähig ist?", fragt Joachim Gauck und meint das Wirtschaftssystem der DDR. Im Bild: der inzwischen abgetragene "Palast der Republik" in Berlin mit den Staatswappen der DDR .

(Foto: Regina Schmeken)

Gauck: Ja, leider. Das ist eine der entscheidenden Folgen langwirkender Diktaturen. Die ostdeutsche Bevölkerung und Teile Osteuropas haben lange in autoritären Systemen gelebt, also unter fortwährender Entmächtigung. Der Einzelne unterliegt einem dauerhaften Prägeprozess, ähnlich wie in der vormodernden, absolutistischen Zeit. Das Partizipationsprinzip lautete: "Sei gehorsam, fürchte dich - und es wird dir gutgehen." Die Tüchtigeren haben den Traum, irgendwann hochzuschwimmen und werden stromlinienförmig. So wie du adelig werden konntest, wenn Huld und Gnade des Fürsten dich erhöht haben. Am Ende werden sie oben integriert in der Herrschaftsklasse. Auf der anderen Seite kommt es zu einer völlig restaurativen Rückentwicklung des Typus Citoyen. Indem wir die Diktatur schönen oder milde darauf blicken, übersehen wir die Entfremdungsfaktoren der nichtkapitalistischen Gesellschaft.

SZ: Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck beklagte unlängst Fehler bei der Wiedervereinigung und eine "Anschluss-Mentalität". Teilen Sie seine Kritik?

Gauck: Wenn man mal von dem Vokabular absieht, das unterhalb seines Niveaus und schlicht populistisch ist, kann man in Teilbereichen sagen: Ja, das ging zu schnell und war mit zu wenig Augenmaß gemacht. Aber Deindustrialisierung? Durch den Kommunismus ist eine gesunde Wirtschaftsstruktur absolut ruiniert und ausgelöscht worden.

SZ: Ein Beispiel?

Gauck: Ohne die DDR-Zeit würde Sachsen heute mit Baden-Württemberg in einem sehr erfolgreichen Wettbewerb stehen. Sachsen war früher durchzogen von einer starken mittelständischen Industrie, von sehr lebendigen Handwerksbetrieben. Wo sind diese Betriebe geblieben? Sie sind abgewandert oder liquidiert oder in sozialistische Großbetriebe umgewandelt worden. Der einzelne Handwerksbetrieb, der einst in seinem Kaff Uhren zusammenbaute, Laternen fertigte oder Strümpfe wob, war weg. Es gab die großen Kombinate, die mit ihrer riesigen Belegschaft, ihrem mangelhaften Produktionsausstoß und mit einer hochbescheidenen Qualität wie dem Trabant meinten, man sei weltmarkfähig. Wie kann man so blöd sein, zu glauben, dass eine solche Struktur lebensfähig ist? Da ist doch weniger der Westen schuld.

SZ: Wo hat der Westen Fehler gemacht?

Gauck: Sich im Einigungsprozess nicht überlegt zu haben, eine Phase von Steuerungerechtigkeit in nennenswertem Ausmaß auszulösen, um hier Gründerexistenzen zu ermutigen. Aber die wären auch so spät eingestiegen, dass sie im Wettbewerb mit den hochentwickelten Betrieben im Raum Stuttgart und im Rhein-Main-Gebiet schwerlich hätten konkurrieren können.

SZ: Wenn Sie vom Citoyen sprechen: Im Sozialismus kann er sich nicht entwickeln, im Kapitalismus verdrießt ihn der Materialismus. Wie kann die Gesellschaft, in der Ihr Urenkel in 20 Jahren leben wird, dieser Falle überhaupt entkommen? Oder stellt sich wieder die Systemfrage?

Gauck: Ich gönne jedem, vom Paradies zu träumen. Es ist aber ein Unterschied, ob der Materialismus Sie regiert oder mit Ihnen und neben Ihnen existiert. Jeder der meint, er wäre erst politikmächtig, wenn er eine Ideallösung für das menschliche Zusammenleben uns präsentieren kann, ist im Irrtum. Ich bin ein Christenmensch, ich finde die Reich-Gottes-Vision unglaublich motivierend. Aber ich weiß genau, dass ich - theologisch gesprochen - in der gefallenen Welt lebe. Ich möchte, dass aus den Träumen der vollendeten Welt solche Aktivitäten entstehen, die sich an der Frage orientieren: Wie können wir das uns Umgebende besser machen? Und ich misstraue denen, die behaupten: "Ich habe den Schlüssel", so wie einige der Linken.

SZ: Was sagen Sie denen?

Gauck: Schreibe lieber Lieder oder male Bilder. Aber lass mich in Ruhe mit deiner politische Erlösungsphantasie. Ich akzeptiere das linke systemkritische Denken so lange, wie es das Vorhandene ernst nimmt und sich mit allen Kräften einsetzt, die Mängel zu überwinden. Diesem Erlösungsmythos will ich ganz heftig widersprechen. Wissen Sie, dieses System kann man nicht einfach so unter Kapitalismus fassen. Das ist der semantische Trick der Linken gewesen. Ich sage: Das Land mag kapitalistisch sein, aber es ist lernfähig. Wer ausgerechnet aus der Wirtschaft alle Freiheit herausnimmt, der wird scheitern. Ich plädiere es so zu machen wie im Sport: Wir schaffen den Fußball nicht ab, weil es Raubeine und Foulspiele gibt, aber wir setzen Regeln und sanktionieren den Regelverstoß.

"Die Leute durchschauen Medienmacht weniger als politische Macht"

SZ: Herr Gauck, Sie sagen, mutige Politiker seien Ihnen lieber. Ist Thilo Sarrazin mutig?

Joachim Gauck; Foto: Regina Schmeken

Joachim Gauck im Sommer 2010

(Foto: Regina Schmeken)

Gauck: Er ist mutig und er ist natürlich auch einer, der mit der Öffentlichkeit sein Spiel macht, aber das gehört dazu. Er setzt sich mit dem Missbehagen von Intellektuellen und von Genossen seiner Partei auseinander - darunter werden viele sein, deren Missbilligung er eigentlich nicht möchte. Nicht mutig ist er, wenn er genau wusste, einen Punkt zu benennen, bei dem er sehr viel Zustimmung bekommen wird.

SZ: Haben Sie sein umstrittenes Buch Deutschland schafft sich ab gelesen?

Gauck: Nein, habe ich nicht. Aber wie ich die Debatte verfolgt habe, gibt es eben einen Teil, wo man sagen muss: Da weist er auf ein Problem hin, das nicht ausreichend gelöst ist. Das andere sind seine biologistischen Herleitungen.

SZ: Sarrazins Thesen von erblich weniger intelligenten Kindern bei bestimmten Gruppen.

Gauck: Wenn er das so behauptet, dann würde ich das auch kritisieren. Ich kann nicht einfach zum Parteigänger werden, aber ich würde mir sehr sorgfältig überlegen, ob ich den Typ aus der SPD ausschließe.

SZ: Sie haben mitbekommen, wie Sie selbst von den Medien als Heilsbringer hochgejubelt wurden. Im Fall Sarrazin gibt es nun auch wieder einen Medienhype. Leben wir in einer Mediokratie in Deutschland?

Gauck: Wir haben eine sehr lange Tradition, politische und wirtschaftliche Macht zu analysieren und zu kritisieren. Diese Geschichte eines kritischen Umgangs mit der Mediendemokratie gibt es noch nicht. Wohl gibt es Medienkritik, aber zu wenig. Die Leute durchschauen Medienmacht weniger als wirtschaftliche oder politische Macht. Allerdings: Bei beiden genannten Hypes war ja tatsächlich etwas vorhanden, was besprochen werden musste.

SZ: Wie haben Sie persönlich das überschießende Medieninteresse erlebt?

Gauck: Natürlich hat mir die Aufmerksamkeit geschmeichelt. Aber lassen wir mal die Personalie Gauck weg, so toll bin ich nicht. Was haben die Abertausenden Unterstützer, die es gab - im Internet, unter Künstlern und ganz normalen Menschen - in dieser Kandidatur gesehen? Was ist deren Botschaft? Doch diese: Mensch, es wäre schön, wenn wir Politiker hätten, denen wir glauben können. Dazu muss man mit den Bürgern so reden, dass sie sich ernst genommen fühlen können. Das ist doch ein wunderbares Signal an die Politik! Diese Leute wollen sich beheimaten. Die sagen, das ist mein Land, meine Demokratie. Und ich möchte mich darin gut vertreten fühlen.

"An der Sarrazin-Debatte krepiert das Land nicht"

SZ: In Ihrem Fall waren sich öffentliche und veröffentlichte Meinung einig. Bei Thilo Sarrazin jedoch scheinen sich die politische Klasse und die Medien gegen die Mehrheit der Menschen verschworen zu haben. Wie erklären Sie sich das?

Muslima in einer Berliner S-Bahn Foto: Regina Schmeken

Muslima in einer Berliner S-Bahn

(Foto: Regina Schmeken)

Gauck: Ich habe das etwas anders wahrgenommen. Der seriösere Teil der Medien ist eher kritisch gegenüber Sarrazin, der - sagen wir - volksnahe Teil eher positiv. Intellektuellen fällt es schwer, zu akzeptieren, dass mit dem Element des Tabubruchs Politik gemacht wird. Mein Eindruck ist, dass der Herr Sarrazin nicht ein Problem erfunden hat.

SZ: Warum dann diese massive Aufregung?

Gauck: Es ist wie so oft eine Pendelbewegung. Wir haben geglaubt, wir sind nicht nur eine Gesellschaft deutscher Dumpfnickel. Wir sind eine bunte, lebendige Gesellschaft. Wow. Schön. Aber es funktioniert eben nicht alles so harmonisch, wie sich das einige gewünscht haben. Jetzt schlägt das Pendel zurück.

SZ: Wie würden Sie das deutsche Integrationsproblem beschreiben?

Gauck: Es besteht nicht darin, dass es Ausländer oder Muslime gibt - sondern es betrifft die Abgehängten dieser Gesellschaft. Darum erscheint es notwendig, und das ist meine Kritik an Sarrazin, genauer zu differenzieren und nicht mit einem einzigen biologischen Schlüssel alles erklären zu wollen. Und plötzlich wird aus einem Hype eine nüchterne Debatte.

SZ: Macht Sarrazin nicht mit seinen oft polemischen Äußerungen eine nüchterne Debatte unmöglich?

Gauck: Zu solchen Debatten gehört die Zuspitzung und auch die populistische Übertreibung. Daran krepiert das Land nicht gleich. Darum schaue ich etwas ängstlich auf eine Entwicklung, die Peer Steinbrück jüngst als "Kultur der Wohlfahrtsausschüsse" umschrieben hat: Da fällen die Weisen ihr Verdikt, eines Anathemas des Papstes gleich: Verschwinde aus meiner Partei, du bist der Teufel! Nein, wir sollen ihn kritisieren, wo es nötig ist, und seine Anregungen aufnehmen. Was mir an diesem Teil des Medienhypes nicht gefällt, ist, dass ein großer Teil der Bewegung angstgesteuert ist. Ich bin unglaublich allergisch gegenüber einer Politik, die maßgeblich auf Angstreflexe setzt. Das gilt auch bei anderen Themen, etwa wenn es um die Nutzung der Atomenergie geht. Wir sollen auf Aktionsformen verzichten, die auf die Angst von Menschen setzen und daraus eine Dynamik ableiten.

SZ: Wie erklären Sie sich die breite und diffuse Angst vor Ausländern in diesem Land? Tatsächlich betreffen die harten Integrationsprobleme ja nur sehr wenige Quartiere in größeren Städten.

Gauck: Mittelstandsfamilien, die Angst vor dem Absturz haben, neigen dazu, ein Bedrohungsszenario zu entwickeln, in dem der Fremde, das Fremde, der Andersartige das eigentliche Problem wäre. Und es gibt unter Politikern offenbar die weitverbreitete Angst etwas zu tun, was Wählerstimmen kosten könnte. Das verhindert sehr oft eine offene Debatte.

"Ob die Medien gemein sind zum Präsidenten? Immer mal wieder, ja"

SZ: Der Bundespräsident müsste doch über diesen Dingen stehen.

Christian Wulff, 2010 Foto: Regina Schmeken

Christian Wulff im Sommer 2010 beim Besuch des Wolfcenters in Dörverden

(Foto: Regina Schmeken)

Gauck: Ja, das müsste er. Und das wird er auch sicher wollen. Er steht nicht unter dem Zwang, wiedergewählt zu werden.

SZ: Christian Wulff hat sich bisher mit keinem Wort in die Debatte eingebracht. Sie werden sich schwertun, ein Urteil über ihn zu fällen, er ist noch keine 100 Tage im Amt ...

Gauck: ... richtig.

SZ: Aber Sie haben beschrieben, die Menschen erwarten von Politikern, dass sie authentisch sind. Die erste Person in diesem Land, die das erfüllen müsste, ist der Bundespräsident. Aber Wulff hat inhaltlich nichts zur Sarrazin-Debatte gesagt. Er hat am falschen Ort Urlaub gemacht, zum falschen Zeitpunkt den Duisburger Bürgermeister Sauerland zum Rücktritt aufgefordert und indirekt der Bundesbank empfohlen, Sarrazin zu entlassen.

Gauck: Wer wäre ich, wenn ich einem, mit dem ich vor ganz kurzer Zeit noch in einem konkurrierenden Verhältnis um das höchste Staatsamt war, nun die gesammelten Kritikpunkte der Medien vortrage? Das mache ich selbstverständlich nicht.

SZ: Ist die Kritik an Wulff überzogen? Überreagieren die Medien? Sind sie sogar gemein zum Präsidenten?

Gauck: Das immer mal wieder, ja.

SZ: Aber ist das nicht Aufgabe der Medien, den Finger in Wunden zu legen?

Gauck: Eben das ist die gute Frage, die Sie anschließen müssen. Herzlichen Glückwunsch! (lacht) Dass die Instanzen in einer Demokratie eine andere mediale Begleitung haben als in Diktaturen und in Fürstentümern, das ist richtig so. Es wechseln sich seriöse Betrachtungen ab mit Satire, Ironie und manchmal auch Gemeinheiten. Wenn es um das Staatsoberhaupt geht, wollen wir hoffen, dass es weniger um Gemeinheiten geht, als um berechtigte Kritik.

"Worauf die Neonazis stolz sind, hasse ich"

SZ: Sie wünschen sich mehr Begeisterung für das Land, auch mehr Patriotismus. Warum tun sich die Deutschen 20 Jahre nach der Wiedervereinigung und 65 Jahre nach dem Ende der Nazi-Herrschaft damit noch so schwer?

Einheitseuphorie vor dem Berliner Reichstagsgebäude am 3. Oktober 1990, Foto Regina Schmeken

Einheitseuphorie vor dem Berliner Reichstagsgebäude am 3. Oktober 1990, 0 Uhr

(Foto: Regina Schmeken)

Gauck: Ich leite den Verein Gegen das Vergessen - für Demokratie. Er wurde gegründet von Menschen, die nicht zuschauen wollten, wie rechte Chaoten wieder auf den Straßen herumlärmen, ohne dass Bürger dagegen etwas sagen. Sie finden hier Leute, die nie vergessen wollen, was Deutsche getan haben und wie wir Leid über uns und über andere gebracht haben. Wir wissen auch, was schuld war. Aber Schuld ist eine personale Dimension. Sie unschuldigen Generationen anzuhängen, ist ein törichtes pädagogisches und politisches Unterfangen. Viele aus der Achtundsechziger-Bewegung - und ich habe mich dazu phasenweise gerechnet - haben das gemacht. Wir haben gedacht, wir sind politisch nur korrekt, wenn wir auch Schuld empfinden.

SZ: Sie haben stellvertretend gebüßt für Ihre Elterngeneration.

Gauck: Richtig. So etwas kommt vor und hat auch seinen Sinn. Aber das Ganze muss in einer vernünftigen Lebensform münden und nicht in einer neurotischen Beschwörung des Unvermögens. Also Katharsis statt neurotisch fixierter Bußfertigkeit. Wirkliche Trauer ist etwas anderes als eine vorgetragene Trauergesinnung. Schuld ist etwas anderes als ausgelebte Schuldgefühle. In der Post-68er-Zeit hat sich das Land vertieft mit den Lasten der Vergangenheit auseinandergesetzt. Das war wichtig. Wir konnten uns danach als Nation besser vertrauen, als wir uns nicht mehr selbst belogen haben.

SZ: Sind Sie gerne Deutscher?

Gauck: Ich bin ein Nachkriegskind und empfand damals eine große Fremdheit gegenüber der eigenen Nation. Ich wollte kein Deutscher sein. Ich fand das so schmutzig. Aber es wurden danach Kinder geboren, die heute erwachsen sind. Sie sind aufgewachsen in einem Land, das im Westteil 60 Jahre Freiheit, Bürgerrechte, Menschenrechte, Herrschaft des Rechtes und aggressionsfreie Außenpolitik erlebt hat. Alle diese Güter sind nicht geträumt. Sie sind real. Und der andere Teil Deutschlands hat sich die Freiheit vor 20 Jahren selbst erstritten und den schönsten Satz der deutschen Politikgeschichte gelebt: "Wir sind das Volk." Und dann spielen wir manchmal ganz gut Fußball und exportieren Druckmaschinen in die ganze Welt. Wann hatte die Nation eigentlich einmal so eine Phase? Warum, zum Kuckuck, wollen wir dazu nicht ja sagen?

SZ: Die Rechtsextremen kapern Begriffe wie Heimat, Nation oder den Stolz, ein Deutscher zu sein. Macht es das nicht unmöglich, die Begriffe demokratisch positiv zu besetzen?

Gauck: Wenn die das sagen, dann wird mir schlecht. Als das anfing, dass die Rechten mit diesen Begriffen hantierten, da habe ich vor Wut gezittert. Worauf die stolz sind, das hasse ich. Ich bin aber stolz auf das, was die hassen. Diesen Stolz müssen wir ihnen entgegensetzen.

SZ: Ist Stolz in Verbindung mit Nation überhaupt der richtige Begriff?

Gauck: Wollen wir dieses normale Gefühl den Bekloppten überlassen? Na, ich hoffe doch nicht! Stolz ist ein Gefühl, das schnell hinüberkippen kann in Arroganz, da muss man aufpassen. Wenn aber der Handwerker sein Produkt fehlerfrei hergestellt hat, wenn der Musiker am Ende eines Konzertes alle begeistert hat, dann empfindet er Stolz. Stolz ist ein natürliches Gefühl. Wir dürfen uns mögen, für das, was wir können. Auch dieses Land. Aber wir brauchen dafür die jüngere Generation. Meine Generation kann das nicht, weil wir sofort in den Verdacht geraten, Kryptofaschisten zu sein.

"Noch mal kandidieren? Eher unwahrscheinlich"

SZ: Machen es uns die türkischstämmigen Deutschen vor, die bei der Fußball-WM Deutschlandfahnen schwenken?

'Bürgerinitiative' für den Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten von SPD und den Bündnis90/Die Grünen, Joachim Gauck; Foto: Regina Schmeken

'Bürgerinitiative' für den Präsidentschaftskandidaten Gauck vor dem Reichstagsgebäude im Juni 2010.

(Foto: Regina Schmeken)

Gauck: Viele meiner intellektuellen Gesprächspartner, die mit einem ähnlichen negativen Nationalgefühl aufgewachsen sind wie ich, waren entsetzt. Sie haben das als einen nationalistischen Rausch empfunden. Aber es waren am Ende nur Patrioten.

SZ: Oder einfach nur türkischstämmige Jugendliche mit Deutschlandfahnen.

Gauck: Ja. Johannes Rau hat gesagt, wir können Patrioten sein, denn ein Patriot liebt sein Vaterland. Der Nationalist aber, der hasst die Vaterländer der anderen. Der rechte Nationalismus braucht die Feindschaft zu den anderen Ländern. Wir, die wir unser Vaterland mögen, brauchen das nicht.

SZ: Kann ein so verstandener Patriotismus auch in der Integrationsfrage weiterhelfen?

Gauck: Ja, sicher. Aber dazu brauchen wir deutsche Bürger, die selber eine positive Beziehung zu diesem Land haben. Wenn wir gerne in diesem Land leben, dann können wir auch einladend sein. Ich sehe das aber noch nicht. Als ich in den Vereinigten Staaten war, bin ich auf Einwanderer getroffen, die innerhalb kürzester Frist begeistert waren von den USA, dieser so harten Gesellschaft. Sie sind stolz, Bürger dieses Landes zu sein. Dieses Bewusstsein hat sich tradiert in der US-amerikanischen Gesellschaft. Es gibt eine stärkere natürliche Bereitschaft, den Fremden als Teil der eigenen Umgebung zu akzeptieren. Da haben wir Nachholbedarf. Selbst in Europa gibt es Länder, die eine höhere Aufnahmebereitschaft haben als wir. Und das tut ihnen gut.

SZ: Ersetzt Aufnahmebereitschaft die Anforderung an die Einwanderer, sich anzupassen?

Gauck: Auch Einwanderer müssen ihren Beitrag leisten. Das ist eine Zumutung, die wir bestimmten Milieus etwa aus den ländlichen Gegenden im Osten der Türkei abverlangen müssen. Aber wir dürfen die Menschen nicht ruhigstellen durch Versorgung. Das perpetuiert Abhängigkeit. Demokratie ist auf Mitwirkung angelegt. Im Gegensatz zur linken Propaganda muss klar sein, das wir den Menschen nichts Böses tun, wenn wir ihre Mitwirkung stimulieren und fordern. Darum bin ich für aktivierende Sozialpolitik. Man kann auch mit bester Absicht etwas Ungutes tun. Wenn ein Vater oder eine Mutter ihre Liebe allein dadurch ausdrücken, dass sie ihren Kindern alles erlauben und alles geben, ziehen sie den Nachwuchs zu Egoisten heran.

SZ: Was machen Sie in fünf Jahren, Herr Gauck?

Gauck: Ich werde dann 75 Jahre alt sein und hoffentlich nicht mehr so ein anstrengendes Programm haben wie jetzt.

SZ: Sie werden also nicht noch mal antreten, um Bundespräsident zu werden?

Gauck: Das ist eher unwahrscheinlich. Ich sehe mich mehr als Bürger, der mitredet.

SZ: Wir sind gespannt und danken Ihnen für das Gespräch.

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