Netz-Depeschen:Zwang zur Dokumentation

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Neue Sichtbarkeit: Kameratelefone sind omnipräsent - sogar bei der Steinigung eines 17-jährigen Mädchens in Nordirak fühlen sich Menschen gezwungen, sie zu verwenden. Bewirken solche Videobelege im Internet nun, dass die internationale Gesellschaft schneller reagiert, oder wird sich die Bilderflut als weiteres Partikel in das aufmerksamkeitsbetäubende Hintergrundrauschen des Netzes einfügen?

Michael Moorstedt

Egal was geschieht - Tsunami oder Aufstand oder Schlussverkauf - es dauere mittlerweile durchschnittlich weniger als eine Stunde, bis ein Video des Ereignisses auf die Plattform geladen wird, sagt Olivia Ma, die "Nachrichtendirektorin" von Youtube. Die Medienrevolution sei beinahe beendet, schreibt die Harvard-Soziologin Zeynep Tufekci deshalb auf ihrem Blog technosociology.org. Man sei nun an einem Punkt angelangt, an dem auf Senderseite eine einzelne Person steht - und auf Seiten der Empfänger die ganze Welt. Und da der Zwang zur Dokumentation in der menschlichen Natur liegt, werde genau dies geschehen. Die Wissenschaftlerin verdeutlicht ihre Behauptung anhand zweier drastischer Beispiele.

Kameratelefone sind mittlerweile überall dabei. Und die ganze Welt kann die mit ihnen erstellten Bilder und Videos sehen. (Foto: REUTERS)

Da wäre zum einen die Geschichte des kurdischen Mädchens Du'a Khalil Aswad. Irgendwann im April 2007 wurde die 17-Jährige in einem kleinen Dorf im Nordirak gesteinigt. Ihre angebliche Konvertierung zum Islam sei der Grund gewesen. Es gibt ein Video dieses Verbrechens, das einen Monat später auf Youtube entdeckt wurde.

Auf der wackligen und grobkörnigen Aufzeichnung sind außerdem noch drei andere Personen zu erkennen, die die Steinigung ebenfalls mit Kamerahandys filmen. Es ist für Zeynep Tufekci kaum nachzuvollziehen, wie und warum Angehörige einer archaischen Gesellschaft, die sich seit Jahrhunderten beinahe hermetisch von der Welt abriegelt, den Drang verspüren können, ihr Handeln nicht nur zu filmen, sondern auch noch ins Netz zu laden.

Das zweite Beispiel ist für Tufekci der Krieg des Assad-Regimes an seinen Bürgern. Trotz aller Bemühungen und der rigorosen Internetkontrolle der syrischen Machthaber lassen sich die Bilder nicht zensieren. Dazu braucht es keine westlichen Journalisten. Tragbare Satellitenmodems sind leicht zu beschaffen und Aktivistengruppen wie Telecomix helfen den Aufständischen, das Videomaterial zu verbreiten. Die Revolution findet in Homs statt und beinahe gleichzeitig als Live-Stream im Netz.

Angesichts dieser Tatsachen bleiben Tufekci mehr Fragen als Antworten. Führt diese neue Sichtbarkeit dazu, dass die internationale Gemeinschaft schneller auf die Gräueltaten reagiert? Oder wird die Bilderflut aus den Krisengebieten der Welt nur zu einem weiteren Partikel, der sich nahtlos in das ohnehin schon so aufmerksamkeitsbetäubende Hintergrundrauschen des Netzes einfügt?

Wird die Flut der Bilder die Handlanger der Unterdrücker dazu bewegen, gegen ihre Despoten wie Assad aufzubegehren? Oder werden sie sich noch verzweifelter an den bestehenden Verhältnissen festkrallen, im Wissen, dass das Beweismaterial unlöschbar im Netz zirkuliert?

Egal wie die Antworten auf diese Fragen ausfallen, so Tufekci, die Menschheit sei an einen Punkt angelangt, von dem aus es kein Zurück mehr gibt. Dank der Omnipräsenz der Kameratelefone werde alles dokumentiert, egal ob Babygeburtstage oder Bombardierungen. Und so sei wieder einmal der Beweis erbracht, dass die bemerkenswertesten Veränderungen technologischen Fortschritts nicht durch von ihm selbst ausgelöste neue Bedürfnisse kommen. Sondern weil die Menschen ihre gewohnten Bedürfnisse unter radikal veränderten Bedingungen befriedigen.

© SZ vom 05.03.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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