Anmerkungen zu Günter Grass:Dichten und meinen

Günter Grass beschuldigt den Staat Israel, einen Angriffskrieg gegen Iran zu planen. Sein Gedicht steckt voller Übertreibungen, die für den Schriftsteller allerdings typisch sind. Der 1999 empfangene Literaturnobelpreis verwandelte ihn endgültig zum schreibenden Republikaner. Als solcher irrt Grass zwar immer wieder, doch der Irrtum gehört zum Meinen.

Thomas Steinfeld

Günter Grass hat ein Gedicht geschrieben. Es ist nicht sein erstes Gedicht. Tatsächlich hatte seine Laufbahn als Schriftsteller mit einem Gedicht begonnen, im Frühjahr 1955, als er bei einem Lyrikwettbewerb des Süddeutschen Rundfunks den dritten Preis gewann und bei dieser Gelegenheit von Walter Höllerer, dem Organisator der Gruppe 47, entdeckt wurde.

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Günter Grass bei einem Autogrammtermin: Seine späten Gedichte sind nicht wirklich Gedichte, sondern Leserbriefe, Beschwerden, Zeitungsartikel oder Plädoyers, die nicht zu der ihnen gemäßen Form gefunden haben. Das gilt auch für die Verse, die unter dem Titel "Was gesagt werden muss" in der Süddeutschen Zeitung abgedruckt wurden.

(Foto: dpa)

In "Gleisdreieck", dem 1960 erschienenen Lyrikband, schildert Grass eine finstere Parallelwelt zur "Blechtrommel", dem im Jahr zuvor erschienenen Roman. In "Ausgefragt", im Jahr 1967 veröffentlicht, illustriert er seinen Wahlkampf für die Sozialdemokraten und Willy Brandt (1965) in Versen. In "Dummer August", vor fünf Jahren publiziert, rechtfertigt er, wie er in seinem autobiographischen Werk "Vom Häuten der Zwiebel" mit seiner Vergangenheit in der Waffen-SS umgegangen war - und schildert, wie er deswegen, wie er meinte, in der Öffentlichkeit und vor allem in den Medien misshandelt wurde.

Nicht alle Gedichte von Günter Grass sind wirklich Gedichte. Bei der frühen Lyrik mag noch die Mehrheit der Werke diesem Genre zugehören, bei den späten ist das nicht mehr der Fall. Das merkt man daran, dass keiner sie als Gedichte in Erinnerung behält. In Wahrheit sind sie Leserbriefe, Beschwerden, Zeitungsartikel oder Plädoyers, die nicht zu der ihnen gemäßen Form gefunden haben.

Das gilt auch für die Verse, die unter dem Titel "Was gesagt werden muss" am Mittwoch dieser Woche auf der ersten Seite des SZ-Feuilletons abgedruckt wurden. Günter Grass beschuldigt darin Israel, einen Angriff auf Iran zu planen, das den Weltfrieden gefährden könne: "Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag, / der das von einem Maulhelden unterjochte / und zum organisierten Jubel gelenkte / iranische Volk auslöschen könnte, / weil in dessen Machtbereich der Bau / einer Atombombe vermutet wird." Lyrisch sind an diesem Satz allein die willkürlichen Zeilenbrüche.

In der Sache wird man Günter Grass an vielen Punkten widersprechen. Bis zu einem israelischen "Erstschlag", also zu einem initialen Angriff der Israelis mit Atomwaffen, reichen bislang selbst die schwärzesten politischen Phantasien nicht, ebenso wenig scheint ein "Auslöschen" des iranischen Volks (Günter Grass wird dieses Wort gewählt haben, weil darin der Holocaust anklingt) anzustehen.

Das Werk ist in die Person eingewandert

Aber diese Übertreibungen haben etwas mit der Gedichtform zu tun: Denn sie sind nicht nur Ressentiment, einseitige, dramatisierte Wahrnehmung. In ihnen spricht sich vielmehr die Eigenart des Schriftstellers Günter Grass aus. Schon lange ist er nicht mehr nur, was er schrieb. Schon lange ist er nicht mehr nur der Verfasser der Romane "Der Butt" oder "Ein weites Feld", des Dramas "Onkel, Onkel" oder des Gedichtbandes "Die Vorzüge der Windhühner". In Günter Grass ist vielmehr die Literatur mit dem öffentlichen Auftritt des Literaten verschmolzen.

Dichten und Verlautbaren sind bei ihm zwei Seiten derselben Figur geworden, das Werk ist in die Person eingewandert. Es war der im Jahr 1999 empfangene Nobelpreis, der ihn endgültig in einen schreibenden Republikaner verwandelte - und vom Praeceptor Germaniae in einen Aufseher der Weltpolitik.

Er ist der einzige Nobelpreisträger für Literatur, dem eine solche Wandlung widerfuhr: Gabriel García Márquez wurde nicht zum literarisch-politischen Gesamtrepräsentanten Südamerikas, J. M. Coetzee nicht zum allgegenwärtigen Kommentator Südafrikas, Derek Walcott nicht zur Stimme der Karibik. Es ist ein deutsches Schicksal, das Günter Grass da traf: in Form der Frage, nein, der Forderung nach dem großen deutschen Nachkriegsroman.

Der unwidersprechlich meinende Schriftsteller

Seit dem Nobelpreis gibt es Günter Grass nur noch so, in dieser zwitterhaften Gestalt des Dichter-Repräsentanten, des scheinbar unwidersprechlich meinenden Schriftstellers. Günter Grass das Meinen zu nehmen - das würde heute bedeuten, ihn und sein gesamtes Werk in eine private Angelegenheit zu verwandeln. Das wäre nicht nur falsch, sondern auch von Grund auf unangemessen, allein schon, weil an dieser Gestalt mehr als fünfzig Jahre deutscher Geschichte hängen: über fünfzig Jahre politischer, sozialer, medialer, literarischer Geschichte.

Günter Grass irrt, nicht immer, aber immer wieder. Er irrte, als er die untergegangene DDR vor der Bundesrepublik retten wollte, er irrte, als er Jemen als Reiseland für die Deutschen empfahl, dem autoritären Regime zum Trotz und zu einem Zeitpunkt, als der Bürgerkrieg in Nordjemen längst begonnen hatte. Er irrt auch, wenn er glaubt, "eine unbehinderte und permanente Kontrolle / des israelischen atomaren Potentials / und der iranischen Atomanlagen" sei der Weg, den nächsten Krieg im Nahen Osten zu verhindern.

Aber solche Formen des Irrtums gehören eben zum Meinen, und meinen - das tat auch Avi Primor, der ehemalige Botschafter Israels in Berlin, als er vor zwei Monaten, in Gestalt einer "Außenansicht", in dieser Zeitung schrieb, Israel könne es sich nicht leisten, Iran für "unantastbar" zu halten. Auch in diesem Fall wäre, wie bei Günter Grass, die Frage, ob man dergleichen publizieren sollte oder nicht, nur fiktiv. Denn Veröffentlichen heißt ja nicht Zustimmen.

Gewiss, der Ton der sich in Gewissensqualen marternden Unschuld, den Günter Grass in seinem Gedicht "Was gesagt werden muss" anschlägt, der ganze, so sorgfältig inszenierte Schmerzensschrei eines geschundenen Liebhabers des Weltfriedens hat etwas Gekünsteltes.

Er ist ebenso illusorisch wie der Gedanke, man könne in Gestalt von Gedichten - mit oder ohne Mandat - über die Weltpolitik verfügen. Und allzu durchsichtig ist die Funktion, die hier der lyrischen Form übertragen wird: Sie dient dazu, den Schriftsteller der Kritik zu entziehen. Indem er sich - scheinbar - nach innen wendet und sein Innerstes nach außen kehrt, in dem er, vor und anstatt einer politischen Auseinandersetzung, als lyrische Empfindsamkeit auftritt, will er einen Standpunkt über allen anderen einnehmen und sich unangreifbar machen. An der Empfindsamkeit sollen alle Einwände zugrunde gehen. So ist das, und so ist Günter Grass. Einen anderen gibt es nicht mehr.

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