Klassische Medien vs. Facebook und Co.:Spirale der Abhängigkeit

Fleischlobbyisten verzweifeln an Twitter und der ugandische Rebellenführer Joseph Kony wird im Internet gejagt - soziale Netzwerke schaffen öffentlichen Druck. Die klassischen Medien setzen aber weiter die Themen, zeigt eine neue Studie. Fazit: Beide Seiten können nicht mehr ohne einander.

Niklas Hofmann

Den "rosa Schleim" hat das Internet dann sogar noch vor dem ugandischen Rebellenführer Joseph Kony zur Strecke gebracht. Den Ausdruck "rosa Schleim" gibt es schon seit ein paar Jahren, er steht für ein industriell hergestelltes Fleischprodukt, das aus kleinsten bei der Schlachtung übriggebliebenen Fleischresten, die mit Ammoniaklösung konserviert zur Streckung von Hackfleisch verwendet wird; die Industrie sprach stets lieber von "magerem, fein strukturiertem Rindfleisch".

Stare vor dem Flug in ihre Überwinterungsgebiete

Durch den Schwarm im Netz bekommen Themen mittlerweile oft eine Dynamik, die sich in der klassischen Medienwelt so nicht erzeugen lässt.

(Foto: dpa)

Doch erst eine vor allem über Twitter ausgetragene Online-Kampagne - die dann wiederum von Fernsehsendern wie ABC groß aufgegriffen wurde - hat den "Schleim" in den USA nun binnen weniger Wochen zum Aufregerthema gemacht. Ein Hersteller musste Insolvenz beantragen, andere legten Fabriken still. So etwas habe sie noch nie erlebt, nicht bei Kolibakterien-Ausbrüchen oder zu Zeiten des Rinderwahnsinns, zitiert der Kansas City Star eine hadernde Fleisch-Lobbyistin: "Durch Twitter ist alles verrückt geworden."

Ob "rosa Schleim" oder Kony2012, die Web-Kampagne gegen den ugandischen Kindersoldatenführer Joseph Kony - es scheint, als ob digitale Netzwerke wie Twitter und Facebook immer erfolgreicher die Themenagenda für Politik und Öffentlichkeit setzten. Dass ein von Journalisten jahrelang für knochentrocken gehaltenes Thema wie das Anti-Produktpiraterieabkommen ACTA so starke Erregungen verursachte, dass schließlich die Tagesschau nicht umhinkonnte, es zu ihrem Aufmacherthema zu machen, das war ein Lehrstück für die neue Themensetzungsmacht im Netz.

Oder ist alles doch anders?

Seit diesem Dienstag ist der Name "Samantha Brick" weltweit ein Trending Topic, also eines der bei Twitter am meisten diskutierten Themen. Die bis dato recht unbekannte britische Journalistin war im Boulevardblatt Daily Mail der Frage nachgegangen, warum nur andere Frauen sie für ihre große Schönheit hassten. Die Zeitung garnierte ihren Text mit Fotos, die Bricks äußere Vorzüge nicht zweifelsfrei zu stützen schienen.

Begrenzte Innovation

Die Daily Mail wusste natürlich ganz genau, welch unwiderstehlichen Köder sie damit dem spottlustigen Social Web hinwarf, das Brick seitdem genüsslich in der Luft zerreißt. Die Daily Mail, die mit ihrer Wirkung in den Social Networks sehr berechnend umgeht, hat jüngst die New York Times als meistgelesene Zeitungs-Website im Netz abgelöst. Die Resonanz, die ihre Geschichten auslösen, ist nicht das schlechteste Indiz für die These, dass es immer noch die Massenmedien sind, die lenken, worüber Twitter und Co. diskutieren.

Es ist 2012 genau 40 Jahre her, dass die amerikanischen Medienwissenschaftler Maxwell McCombs und Donald Shaw in einem nur knapp zwölf Seiten langen Aufsatz für das Journal Public Opinion Quarterly über den Präsidentschaftswahlkampf 1968 den Begriff von der "Agenda-Setting-Funktion der Massenmedien" prägten; im deutschen Sprachraum wurde auch der Begriff der "Themenstrukturierung" verwendet: Nicht was die Menschen dächten, aber worüber sie nachdächten, werde von den Medien geprägt, lautete die Hypothese von McComb und Shaw, denn die Medien setzten (hier in Wahlkämpfen) die Agenda. Später wurde die Theorie ausdifferenziert, es gibt Ansätze, die die Wirkung der Medien auf das Bewusstsein der Öffentlichkeit für Themen (Awareness), auf ihre je unterschiedliche Beachtung (Salience) oder ihre Prioritäten-Rangliste (Priorities) herausheben.

Im Ergebnis scheint beides zuzutreffen

In all diesen Modellen wird man mit dem Aufstieg der Sozialen Medien nun einige neue Komplexitätsebenen ergänzen müssen. Entstanden ist ein kompliziertes Gefüge aus Medienöffentlichkeiten, zwischen denen es vielfältige Wechselbeziehungen und Verstärkerwirkungen gibt. Der Kommunikationswissenschaftler Jacob Groshek von der Erasmus-Universität in Rotterdam hat während eines Zeitraums von sechs Wochen im Jahr 2010 die wichtigsten Geschichten in den Online-Auftritten der klassischen amerikanischen Elitemedien New York Times und CNN mit den "Trending Topics" bei Twitter und den am häufigsten geteilten Posts bei Facebook verglichen und auf Korrelationen und zeitliche Kausalitäten untersucht.

Im Ergebnis schien beides zuzutreffen: Tatsächlich hatte die Gesamtheit der Themen bei Twitter zwar kaum etwas mit der Agenda der klassischen Medien zu tun. Doch wenn man einzelne Themen herausgriff (etwa aus den Bereichen ethnische Beziehungen, Religion und Kultur, aber vor allem der Wahlberichterstattung), dann ließ sich bei Twitter die spätere Berichterstattung der Medien sehr wohl bereits vorahnen (für Facebook galt das weniger).

In der Spiraldrehung

Umgekehrt jedoch setzten die Geschichten der großen Medienhäuser fortwährend und belegbar die Agenda für die Sozialen Netzwerke - aus der sie dann wiederum Trends aufgriffen. Ein Schaubild müsste hier wohl viele gekrümmte Pfeile und Kreisbewegungen enthalten. Man beobachte, so schreiben Groshek und seine Co-Autorin, "Muster von Agendaverstärkung bei relativ begrenzter Wechselseitigkeit und Innovation."

Für Groshek hat sich die Agenda-Setting-Funktion der alten Massenmedien als letztlich anpassungsfähig erwiesen. Wahrscheinlicher aber, als dass sie sich ihre unangefochtene Dominanz über die gesellschaftliche Agenda ganz zurückerobern, scheint in Zukunft ein anderer Normalfall: Dass sich Twitter, Facebook und Publizistik in ihren Themensetzungen in einer Art kontinuierlichen Spiraldrehung gegenseitig be-, wie auch immer weiter verstärken. Die Herren Guttenberg und Wulff hätten dazu sicher Interessantes zu berichten.

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