Atomenergie:Ein Traum von einem Kraftwerk

Ja, auch auf den Philippinen gibt es ein Atomkraftwerk - nur wurde es in 28 Jahren nicht in Betrieb genommen. Bis es so weit ist, führen Ingenieure Touristen durch den Meiler.

Janine Böhm

Kontrolle muss schon sein, man weiß ja nie. Ein bewaffneter Sicherheitsmann mit akkurat gebügeltem Hemd und schief am Kragen hängender Krawatte notiert die Namen und Autokennzeichen der Besucher. Zwei verblichene Plakate hängen neben dem Eingang. Das eine zeigt Fotos der meistgesuchten Terroristen des Landes, das andere Bilder geschützter Tiere, Seekühe, Koboldmakis, Nashornvögel. Wir befinden uns auf den Philippinen, an der Pforte des einzigen Atomkraftwerks des Inselreichs.

Atomenergie: Hallo, kommt bald der Strom? Ein Besuch im AKW Bataan fühlt sich an wie eine Zeitreise in die Atomwelt der 80er Jahre: Die Anzeigen und Schalttafeln erinnern an alte James-Bond-Filme.

Hallo, kommt bald der Strom? Ein Besuch im AKW Bataan fühlt sich an wie eine Zeitreise in die Atomwelt der 80er Jahre: Die Anzeigen und Schalttafeln erinnern an alte James-Bond-Filme.

(Foto: AFP)

Ingenieur Reynaldo Punzalan empfängt mit schüchternem Händedruck zu einem Besuch in der Bataan Nuclear Power Plant (BNPP) an der Westküste der gleichnamigen Halbinsel. Die Anlage liegt hinter einem mit Goldornamenten verzierten Eisentor. Asphalt führt durch Wiesen, auf denen Mangobäume schwere, süße Früchte tragen. Eine leichte Brise weht vom Meer herüber. Schwefelfarbene Gelbbuschpfeifer und Fledermauspapageien zwitschern in den Bäumen. Sonst hört man nichts, und schon gar keine Maschinen. Wie auch? Das Kraftwerk Bataan gibt es seit fast 20 Jahren, aber in Betrieb gegangen ist es nie.

Dennoch träumen Techniker und Ingenieure des Inselstaats davon, in Bataan irgendwann das nukleare Feuer entfachen zu dürfen. Hier zeigt sich ein Dilemma, das viele Schwellenstaaten kennen: Wie viel Risiko darf man für die Energieversorgung eingehen?

Als die Pläne zum Bau des Kraftwerks als Reaktion auf die Ölkrise 1973 entstanden, war das noch gar keine Frage, zumal damals noch Diktator Ferdinand Marcos regierte. Er wollte die Philippinen weniger abhängig vom teuren Ölimport machen. Als Standort entschied man sich für Bataan, eine Halbinsel im Südwesten der Insel Luzon, 80 Kilometer Luftlinie von der Metropole Manila entfernt. 1984 wurde der Meiler nach acht Jahren Bauzeit und mehreren Korruptionsskandalen für 2,3 Milliarden Dollar fertiggestellt - ursprünglich waren 500 Millionen Dollar veranschlagt worden. Allein die Zinsen für die ausländischen Kredite betrugen 350.000 Dollar täglich.

Nach Marcos Sturz und der Tschernobyl-Katastrophe von 1986 stoppte seine Nachfolgerin Corazon Aquino die Inbetriebnahme des AKWs, vor allem weil die Region erdbebengefährdet ist und es aktive Vulkane gibt. Seitdem gammelt das Kraftwerk vor sich hin. Nach dem Fukushima-GAU schließlich beschloss die Regierung, den Meiler in eine Touristenattraktion zu verwandeln.

So kommt es, dass der Ingenieur Punzalan, ein Mitarbeiter der ersten Stunde und Experte für Westinghouse-Druckwasserreaktoren, zum Fremdenführer wurde. Politiker, Journalisten, Touristen und Studenten muss er nun durch die Anlage führen. Für den nächsten Tag hat sich der arabische Nachrichtensender al-Dschasira angemeldet. Das Kraftwerk ist ein fensterloser Betonklotz mit der Ausstrahlung eines wilden Tieres, dem man alle Zähne gezogen hat. Zahnlos ist auch der Arbeiter, der an einer hellblauen Eisentür lehnt - dem Eingang zum Gebäude. An einer Wand lagern leere Metallfässer, zerfressen von der Meeresluft. Putz blättert von der Fassade. In einem Nebengebäude züchtet jemand Brieftauben.

Im benachbarten Bürogebäude wartet Mauro Marcelo. Er ist als Leiter der Nuclear Energy Core Group des staatseigenen Energiekonzerns sozusagen oberster Chef des Atomkraftwerks Bataan. Marcelo besitzt eine vertrauenserweckende, fast großväterliche Ausstrahlung. Er trägt ein einfaches blaues Hemd, seine ergrauten Haare hat er zurückgekämmt. "Nennen Sie mich einfach Mau", sagt er und winkt einen Mitarbeiter herein, der Häppchen bringt.

Mit seinem Laptop stellt Marcelo per Powerpoint die Geschichte des BNPP vor. Der AKW-Chef ist von der Idee begeistert, den Atommeiler endlich doch hochzufahren. "Ich hoffe sehr, dass das Werk ans Netz gehen kann. Wir haben so viel Geld hineingesteckt, nun sollte sich das endlich bezahlt machen." Argumente dafür gibt es offenbar genug. Der Energieverbrauch auf den Philippinen steigt mit der ständig wachsenden Bevölkerung. Das Department of Energy geht davon aus, dass sich bis 2030 der Energiebedarf auf 150 Terawattstunden fast verdreifachen wird. Offiziell plädiert die Politik derzeit für regenerative Energiequellen sowie die beschleunigte Erschließung von Erdöl-, Erdgas- und Kohlevorkommen, doch einige Regierungsexperten votieren für die Kernkraft, sei es in Bataan oder an neuen Standorten. Sie werden unterstützt von einflussreichen Kongressabgeordneten, die mit einem Gesetzentwurf erzwingen wollen, dass der Meiler endlich Strom produziert.

"Es müsste eine Milliarde Dollar investiert werden"

"Es müsste eine Milliarde Dollar investiert werden, um das Kraftwerk auf Vordermann zu bringen", sagt Marcelo. "Denkbar wäre aber auch ein komplett neues AKW, das jedoch zwischen vier und fünf Milliarden Dollar kosten würde." Mit einem Neubau wären die Philippinen nicht allein. Derzeit werden nach Angaben der World Nuclear Association 63 neue Atomkraftwerke gebaut, vor allem in China, Indien und Südkorea. Der hohe Anschaffungspreis spräche in den Philippinen jedoch eher für eine Sanierung des Meilers von Bataan.

Atomenergie: Die Kontrollstäbe im Reaktor des Atomkraftwerks. "Es müsste eine Milliarde Dollar investiert werden, um das Kraftwerk auf Vordermann zu bringen", sagt der AKW-Chef.

Die Kontrollstäbe im Reaktor des Atomkraftwerks. "Es müsste eine Milliarde Dollar investiert werden, um das Kraftwerk auf Vordermann zu bringen", sagt der AKW-Chef.

(Foto: AFP)

Es wäre eine Herkulesaufgabe. Die Tour zum Reaktorkern gleicht einer Zeitreise in die Atomwelt vergangener Jahrzehnte. Man irrt herum wie in einem vergessenen Labyrinth. Gittertreppen hinauf, durch einen gelb getünchten Gang bis in einen Saal voller Steuerkästen, verglasten Anzeigen, Messgeräten und Rohren. Ein schmaler Flur schließt sich an, der durch türkisfarbene Flügeltüren und Schleusen führt. Treppen rauf und wieder runter, vorbei an Kabelbündeln, Schaltkästen, Pumpen, Notstromaggregaten und Motoren. Der Rundgang führt in menschenleere Lagerräume, Werkstätten und schließlich in das Maschinenhaus, in dem Turbinen und ein Generator stehen. Die Klimaanlage wurde aus Kostengründen abgeschaltet, sodass sich die tropische Hitze staut. Neonröhren surren und flackern. Es ist gespenstisch.

Die Ausstattung des Kontrollraums erinnert an alte James-Bond-Filme. Es gibt jede Menge Messgeräte, Hebel und Schaltknöpfe mit vergilbten Funktionsschildern, jedoch keinen einzigen Computer. Auf einem schäbigen Holzschreibtisch stehen vier Ordner mit der Betriebsanleitung und einer Anweisung zum Vorgehen im Problemfall. "Das hier ist der direkte Draht zum Präsidenten", sagt AKW-Chef Marcelo und deutet auf ein tastenloses Telefon.

Eine röhrenförmige Personenschleuse, die auf beiden Seiten von zwei schweren Stahltüren hermetisch verschlossen werden kann, führt ins Reaktorgebäude. Im Zentrum steht in einem Stahlbecken der Reaktorkern, ein riesiges zylindrisches Metallgebilde mit senkrecht verlaufenden, beringten Stahlrohren. "Auf der ganzen Welt gibt es keinen Reaktor, an den die breite Öffentlichkeit näher herantreten kann als hier", sagt Marcelo und wischt sich mit einem Handtuch den Schweiß von der Stirn. Direkt neben dem Kern steht eine Vorrichtung mit den Steuerstäben, mit denen die Leistung des Reaktors geregelt werden kann. Sie blitzen wie blank poliert und sind zum Teil noch in Plastikfolie gehüllt. Das Reaktordruckgefäß, in das der Kern normalerweise eingebettet wird, ist nicht zu sehen.

Die Außenwand des Reaktorgebäudes besteht aus Stahlbeton und einem Sicherheitsbehälter aus Stahl. Beides soll den Reaktor vor Gefahren von außen, etwa einem abstürzenden Flugzeug, schützen und bei einem Unfall im Reaktor radioaktives Material im Inneren zurückhalten. Marcelo deutet auf die Stahlhülle und lächelt: "Die Schweißarbeiten wurden damals überwiegend von Frauen gemacht. Die haben einfach eine ruhigere Hand."

Sicherheitsbedenken hat er keine: "Es gibt drei Kraftwerke des gleichen Bautyps in Brasilien, Slowenien und Korea, und sie alle produzieren erfolgreich billige und saubere Energie." Mit den Vorkommnissen in Fukushima lasse sich das nicht vergleichen. Das BNPP sei stärker und sicherer. Es sei später gebaut worden als die japanischen Meiler und liege mit 18 Metern deutlich höher über dem Meeresspiegel. Zudem habe es seit seiner Fertigstellung allen Beben und Taifunen getrotzt. Warum sollte das nicht auch in Zukunft der Fall sein?

Mehr Zweifel haben Forscher der University of the Philippines Diliman. Die Geologen fanden heraus, dass ein Ausbruch des potentiell aktiven Vulkans Natib, an dessen südwestlichen Ausläufern das BNPP liegt, pyroklastische Ströme bis zu dem Kraftwerk schicken könnte. Welche Wirkung diese, mit bis zu 400 Kilometer pro Stunde den Berghang hinabschießenden Gesteins- und Magmaflüsse haben, lässt sich am Vulkan Pinatubo bestaunen, der weiter im Norden der Insel Luzon liegt. Bei seiner letzten Eruption 1991 zermalmten diese Ströme alles zu Staub, was auf ihrem Weg lag.

Der Ingenieur Reynaldo Punzalan steht auf dem Brückenkran über dem Reaktorkern und drückt einen der schwarzen Knöpfe des Steuerelements. Eine schrille Klingel ertönt; rhythmisch begleitet sie die Fahrt der Brücke hinüber zum Abklingbecken. "Funktioniert alles noch tadellos, die Anlage ist so gut wie neu", sagt Punzalan.

Auf dem Weg zurück geht plötzlich das Licht aus. Es ist Punkt 16 Uhr. Auch im Kraftwerksgebäude muss Strom gespart werden, so wie in vielen Teilen des Landes. Mit einer Taschenlampe führt Reynaldo Punzalan durch die Finsternis ins Freie und erzählt dabei von seinem ersten Beruf. "Vier Jahre lang habe ich als Marineingenieur gearbeitet und auf großen Schiffen die Ozeane durchquert. Bis ich eines Tages in der Zeitung las, dass für Bau und Betrieb des Atomkraftwerks Ingenieure gesucht werden." Bis zum Mai 2011 war der Arbeitsalltag des Technikers relativ beschaulich. Dann kamen die Besucher.

Der Direktor des regionalen Tourismus-Departements ist über die neue Attraktion immer noch begeistert. "Unsere geschulten Guides können lehrreiche Eindrücke vermitteln, anschaulich erläutern, was sich in Fukushima ereignet hat und erklären, warum in Bataan so etwas nie passieren würde", erklärt der Tourismusmanager. Und außerdem lasse sich der Besuch mit ein paar schönen Tagen am Strand verbinden. Bataan habe zauberhafte Buchten.

Während über dem Südchinesischen Meer die Sonne untergeht, flattern aus einem unterirdischen Abwasserkanal Hunderte hungriger Fledermäuse auf der Suche nach Insekten ins Freie. Kein Kraftwerksarbeiter traut sich in diesen nun wirklich gefährlichen Ort hinein, denn neben den Fledertieren sollen sich dort, so heißt es, auch unzählige Giftschlangen eingenistet haben.

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