Chaos in der Sahelzone:Afrikas Afghanistan

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Nach der Rebellion der Tuareg in Mali befürchten westliche Geheimdienste, dass die Sahelzone im Chaos versinkt. Für den gestürzten libyschen Diktator Gaddafi war ein großer Sahara-Staat einst ein Traum - einige Tausend Veteranen könnten ihn nun verwirklichen. Ein unabhängiger Tuareg-Staat wäre einer der schwersten Kollateralschäden des Libyen-Krieges.

Rudolph Chimelli

Nun ist auch Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy besorgt, dass in der Sahelzone "ein terroristischer oder islamistischer Staat" entstehen könnte. Es sei aber nicht Sache der Franzosen, auf die Übernahme des Nordens von Mali durch rebellische Tuareg militärisch zu reagieren. Frankreich als ehemalige Kolonialmacht könne "helfen", aber zuständig sei die Ecowas, die Wirtschaftsgemeinschaft westafrikanischer Staaten, in der Mauretanien, Algerien und Niger mit Mali verbunden sind, sagte der Präsident einem Nachrichtensender.

Viele Familien in Mali sind auf der Flucht. (Foto: Joe Penney)

Viel deutlicher wurden indes seine Geheimdienste. Sie warnten vor dem Entstehen "einer riesigen Grauzone im Sahel-Afrika unter dem Banner der Religion, wo Verbrecherbanden unter Nutzung der heftigen Differenzen zwischen Muslimen, Nomadenstämmen, Salafisten, Restgruppen von al-Qaida und verlorenen Soldaten des Kampfes gegen den arabischen Frühling Gewinn ziehen". Sie lebten von Entführungen und Lösegelderpressung, die ihnen in den vergangenen Jahren etwa 200 Millionen Euro eingebracht haben dürften, vom Handel mit Waffen, Rauschgift und überwiegend in Europa gestohlenen Autos.

Nach Ansicht der Geheimdienste besteht das Risiko des Staatszerfalls. Auch von einem "afrikanischen Pulverfass" und einem "Afghanistan südlich Europas" ist bereits die Rede. Das neue Element in dieser Entwicklung sind die Veteranen der "Grünen Legion" des gestürzten libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi, die sich zum großen Teil aus Tuareg-Stämmen der Sahara rekrutierte. Für Gaddafi war ein großer Sahara-Staat einst ein Traum, einige Tausend Veteranen, die sich mit schweren Waffen aus Libyen in ihre südlichen Heimatländer abgesetzt haben, könnten ihn nun verwirklichen. Ein unabhängiger Tuareg-Staat in der Mitte der Sahara wäre damit einer der schwersten Kollateralschäden des Libyen-Krieges.

Allein der Norden Malis, für den die Nationale Befreiungsbewegung für Azawad (MNLA) jüngst die Unabhängigkeit ausgerufen hat, umfasst 800.000 Quadratkilometer. Und ein MNLA-Sprecher erinnerte jüngst daran, dass Azawad vor der Kolonialisierung sogar noch größer war: "Alle Tuareg-Gebiete gehörten dazu, nicht nur in Mali, sondern auch in Niger und Libyen." Bei der Vertreibung der malischen Regierungstruppen aus dem Norden haben auch jetzt Tuareg aus dem Nachbarland Niger geholfen. MNLA-Chef Mahmud Ag Aghali weist darauf hin, dass die Tuareg einst schon den Franzosen die Unabhängigkeit erklärt hätten. Sie wollten nicht, dass ihre Gebiete zu Mali geschlagen würden.

In einem Brief an den damaligen französischen Präsidenten Charles de Gaulle verlangten die Tuareg-Führer, ihre Territorien dürften nicht an die Nachfolgestaaten der französischen Kolonie verteilt werden. Paris hatte 1957 die kurzlebige Organisation der Sahara-Regionen gegründet, die als autonomes Wirtschaftsgebiet unter französischer Souveränität von Algerien, wo gerade das Erdöl zu fließen begann, bis in den Tschad reichen sollte.

Auch jetzt, ein halbes Jahrhundert später, betont Sarkozy, man müsse unter Achtung der Grenzen Malis "mit den Tuareg zusammenarbeiten, um zu sehen, wie sie ein Mindestmaß an Autonomie erhalten können". Bereits drei Mal - 1963, 1990 und 2006 - hatten die Tuareg gegen die malische Regierung rebelliert. In ihrem Stammland, dem Norden Malis, hatten französische und amerikanische Gesellschaften vor Jahrzehnten Erdöl gesucht. Sie gaben auf, weil sich die Erschließung der Vorkommen bei einem Weltmarktpreis von damals vier Dollar pro Fass nicht lohnte. Der jetzige Preis von 120 Dollar öffnet jedoch ganz andere Perspektiven - und die Tuareg wissen es.

Sie hoffen auf einen Aufschwung, denn nach wie vor ist das malische Tuareg-Gebiet wenig entwickelt - und die sozialen und geografischen Strukturen der Sahel-Staaten ähneln sich: "Dort gibt es keine Straßen, kein Gesundheitswesen, keine Schulen, keine Brunnen, keine Strukturen für ein normales Alltagsleben", sagte der damalige und mittlerweile gestürzte Präsident Amadou Toumani Touré vor drei Jahren der algerischen Zeitung al-Watan. "Effektiv gibt es gar nichts. Ein junger Mann aus dieser Gegend hat keinerlei Chance zu heiraten oder im Leben vorwärts zu kommen, außer vielleicht ein Auto zu stehlen und sich den Schmugglern anzuschließen."

Bei ihrem Vormarsch profitierten die nur mäßig religiösen Tuareg der MNLA von ihrem Bündnis mit lokalen Islamistengruppen. Unter diesen befindet sich die sogenannte al-Qaida im islamischen Maghreb (Aqim), die aus dem algerischen Untergrund hervorgegangen ist. Daneben steht die einheimische salafistische Gruppe Ansar Dine, die erst im Dezember gebildet wurde. Die Ansar-Dine-Mitglieder wollen ein Scharia-Regime für ganz Mali, die MNLA nicht. Wie lange die Allianz solche Widersprüche überdauert, darüber darf spekuliert werden.

© SZ vom 14.04.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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