"Sherlock" in der ARD:Kombinieren in der digitalen Bohème

Sherlock Holmes löst in höchstens ein paar Minuten ein kniffliges Problem. Aber gerade das setzt ihm zu - denn ihn verlangt nach immer schwierigeren Fällen, immer raffinierteren Gegnern, immer komplexeren Verschwörungen. Die ARD zeigt eine zweite Staffel des BBC-Meisterwerks.

Von Johan Schloemann

Wenn es um Kriminologisches geht, holen ARD und ZDF gerne ihr großes Versäumnis nach: Dann gibt es hervorragende amerikanische oder britische Serien auch mal zur Primetime im Hauptsender. Jetzt ist da die zweite Staffel des BBC-Meisterwerks Sherlock in der ARD zu sehen, jene kongeniale Adaption, welche den viktorianischen Detektiv Sherlock Holmes in die digitale Boheme im heutigen London versetzt.

Sherlock - Ein Skandal in Belgravia

Wunderbar für den Zuschauer, aber latent gefährlich fürs deutsche Fernsehen: Sherlock Holmes (Benedict Cumberbatch, l.) und Dr. Watson (Martin Freeman) kehren mit der zweiten Staffel zurück.

(Foto: ARD Degeto/BBC)

Das ist wunderbar für den Zuschauer, aber latent gefährlich fürs deutsche Fernsehen. Denn dieser Sherlock, der immer einen Tick schneller, schlagfertiger und findiger als alle anderen ist, droht nicht nur bei der englischen Polizei, sondern erst recht bei deutschen Tatort-Kommissaren oder Schnulzenprogrammplanern etwas Schreckliches zu bewirken: ein nagendes Unterlegenheitsgefühl. Hoffen wir auf nachhaltige Wirkung.

Nun ist es aber keineswegs so, dass sich dieser Sherlock Holmes des Jahres 2012 seinerseits auf den Leistungen der rasenden Intelligenz, die ihm zu Gebote steht, ausruhen könnte. Ganz im Gegenteil. Er braucht zwar zur Lösung eines kniffligen Problems höchstens ein paar Minuten der Kombinatorik, wo andere wochenlang ermitteln. Aber gerade das setzt ihm zu. Ihn verlangt es nämlich nach immer schwierigeren Fällen, immer raffinierteren Gegnern, immer komplexeren Verschwörungen. Anders kann er seinen Ennui nicht bekämpfen, seine quälende Unterforderung - er braucht all das wie die harten Drogen, Kokain oder Morphium, die sein literarisches Vorbild einst noch reichlich genoss.

Seinen ersehnten Stoff bekommt der heutige Sherlock von den Schöpfern der Serie, Steven Moffat und Mark Gatiss, in Form von mafiösen und terroristischen Netzwerken. Oder in Form von geheimen militärischen Versuchslabors an einem Ort namens Baskerville im Dartmoor, wo der berüchtigte Hund nun zwischen genetischen Mutationen und bewusstseinsverändernden chemischen Waffen zu suchen ist. Und nicht nur die ins Horrorgenre kippende Baskerville-Episode, auch die anderen beiden der drei neuen Folgen sind diesmal in aller gebotenen Freiheit an besonders berühmte Holmes-Stories angelehnt: "Ein Skandal in Böhmen", wo es jetzt um kompromittierende Sex-Fotos, Royals und Terroranschläge geht, sowie zum Abschluss "Sein letzter Fall", die Geschichte, mit der Arthur Conan Doyle im Jahr 1893 Sherlock Holmes im Kampf mit seinem Erzfeind und Spiegelbild James Moriarty sterben ließ - vorerst. Aber keine Angst, eine dritte Staffel ist schon angekündigt.

Rationaler Romantiker

Auch wenn er immer wieder mal allein sein und nachdenken will: Nicht grübelnde Versenkung, sondern rastloses Multitasking ist es, was der Sherlock der Gegenwart der Welt des Bösen entgegenzusetzen hat. Benedict Cumberbatch spielt ihn wieder großartig als anämischen Snob, als hypernervösen Außenseiter, der in seinem Belstaff-Mantel und seinem postviktorianischen Paul-Smith-Outfit die unterhaltsamsten und die riskantesten Seiten des britischen Elitismus verkörpert.

Sherlock, hungrig nach Anerkennung, aber unfähig zur Liebe, spielt daheim, in der WG in der Baker Street, die Violine, beherrscht aber auch die schwierigsten Instrumente der digitalen Ära mit klassischem Scharfsinn. Mal ist er ein düsterer Wanderer über dem Nebelmeer, mal ein kindischer Techie. Ein hoffnungsloser Romantiker der Rationalität. Es ist gut, wenn auch keine letzte Sicherheitsgarantie, dass ihm wieder der bodenständigere Afghanistan-Veteran Dr. Watson zur Seite steht, gespielt vom früheren The Office-Mitarbeiter Martin Freeman. Beide, Cumberbatch und Freeman, haben übrigens parallel zu Sherlock an den Dreharbeiten zu Peter Jacksons neuem Hobbit-Film mitgewirkt, der Ende des Jahres in die Kinos kommt.

An den Grenzen der Vernunft

Im "Skandal in Böhmen" heißt es bei Arthur Conan Doyle einmal, Sherlock Holmes sei "die perfekteste schlussfolgernde und beobachtende Maschine, die die Welt gesehen hat" - the most perfect reasoning and observing machine that the world has seen. Doch schon als die ursprünglichen Holmes-Geschichten Ende des 19. Jahrhunderts in Serienform herauskamen, war die unbestechliche, kalte, alles beherrschende Rationalität der Moderne, mit der der Meisterdetektiv in der Großstadt seine Fälle löst, eine nostalgische Fiktion. Sigmund Freuds Psychoanalyse entstand zur gleichen Zeit, und im Alter wurde Conan Doyle, der Schöpfer der Vernunftmaschine, selbst ein Prophet des Spiritualismus.

Und so ist es heute erst recht konsequent, wenn Sherlock Holmes trotz digitaler Apparatur und wissenschaftlicher Expertise an die Grenzen der Vernunft stößt. Gerade sein genialer Witz, der Sherlock so ausnehmend lustig und kurzweilig macht, führt ihn bis in die Sphäre der eigenen Zerstörung. Es wäre ein leicht auflösbares, aber unsühnbares Verbrechen, an dieser Stelle mehr zu verraten.

"Ein Skandal in Belgravia", ARD, Donnerstag, 20.15 Uhr. Die weiteren Folgen: "Die Hunde von Baskerville", Pfingstsonntag, "Der Reichenbachfall", Pfingstmontag, jeweils 21.45 Uhr.

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