Bürgerbeteiligung im Internet:Wirkungslose Wunderwaffe

Alle, wirklich alle können mitmachen. Deshalb gelten Konzepte wie "Liquid Democracy" der Piraten als Wunderwaffe gegen Politikverdrossenheit. Doch ein Großteil der Bürger hat daran schlicht kein Interesse - und bleibt offline. Experten warnen vor der Macht einer digitalen Elite.

Thomas Schmelzer

Dirk Lahmann ist derzeit nicht um seinen Job zu beneiden. Der Projektleiter des Bonner "Bürgerdialogs zum Haushalt" muss eine unangenehme Zahl erklären. Nur 1740 Bonner haben sich dieses Mal an der Online-Diskussion zu ihrem Haushalt beteiligt. Im Vorjahr waren es noch 12.000 gewesen. "Es ist trotzdem ein Riesenerfolg, dass sich so viele Bürger mit unserem Haushalt beschäftigt haben", sagt Lahmann. Doch im Vergleich zu den Bewohnern Bonns wirkt die Teilnehmerzahl mickrig. In der ehemaligen Bundeshauptstadt leben 324.000 Menschen.

Supporters of the Pirate Party react after the first exit polls for the North Rhine-Westphalia federal state election in Duesseldorf

Neue digitale Elite: Anhänger der Piratenpartei feiern den Wahlerfolg in NRW.

(Foto: REUTERS)

Bonn ist nur ein Beispiel: Ob Liquid Feedback bei den Piraten, Internet-Bürgerhaushalte oder die Adhocracy-Plattform der Bundesregierung - nirgends will die Online-Bürgerbeteiligung so richtig anspringen. "Wir nutzen Liquid Feedback bisher kaum", sagt Mario Tants von den Bremer Piraten, die am Sonntag auf ihrem Landesparteitag auch über einen eigenen Liquid-Feedback-Server abstimmen wollen. Bundesweit ist nur jeder vierte Pirat bei der parteiinternen Plattform registriert. Viele Piraten beschweren sich über eine unausgereifte Technik. Auch beim Adhocracy-Projekt der Bundesregierung machen bislang nur 2769 Mitglieder mit. Man spreche "kein Massenpublikum" an, räumte der Vorsitzende der Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft, Axel Fischer, zuletzt ein. Es scheint, dass die meisten Bürger einfach keine Lust auf die neuen Angebote haben.

Dabei klingt die Theorie der Internet-Plattformen so schön. Wie bei den alten Griechen sollen die Bürger zusammenkommen und ihre Probleme gemeinsam lösen. Sie diskutieren, argumentieren und stimmen ab. Das geht heute nicht mehr vor den Hügeln der Stadt, weil zu viele Menschen in einem Staat leben. Aber dafür gibt es jetzt das Internet. Seit ein paar Jahren dürfen die Internetnutzer etwa in über hundert Städten und Gemeinden im Netz über ihren Haushalt diskutieren. In den sogenannten Online-Bürgerhaushalten dürfen die Teilnehmer zwar oft nur Vorschläge für die Verwaltung erarbeiten. Doch ginge es etwa nach den Piraten, sollen sie im Netz auch bald über Familienpolitik und Bundeswehreinsätze abstimmen.

Es ist der alte Traum der Demokratie. Nicht mehr eine Elite soll die Masse regieren, sondern die Masse sich selbst. Jeder soll teilhaben können - unabhängig von Alter, Geschlecht oder Einkommen.

Problemfall: digitale Spaltung

Doch genau daran zweifeln immer mehr Experten. "Die digitale Spaltung verläuft genau entlang der sozialen Schere", sagt der Politikwissenschaftler Markus Linden im Gespräch mit der SZ. Je anspruchsvoller die Partizipation sei, desto weniger würden sich sozial schwächere Menschen beteiligen. Die digitalen Beteiligungsformen seien Demokratie-Placebos. Erstens machten zu wenige Menschen mit und zweitens seien die Ergebnisse oft gar nicht relevant.

"Schon heute nutzen Eliten und Agenturen solche Werkzeuge, um Partizipation vorzutäuschen und ihre eigenen Interessen zu legitimieren", sagt Linden. Der Wissenschaftler hat beobachtet, dass sich die meisten Menschen in der Praxis aus direkten Partizipationsangeboten zurückziehen, sobald die Themen zu komplex werden. "Als Entscheidungsverfahren ist die digitale Demokratie deshalb ungeeignet", sagt Linden.

Das glaubt auch Stephan Eisel. Der CDU-Politiker gilt als einer der schärfsten Kritiker der sogenannten eDemocracy. Er beschreibt die Nutzer der neuen Angebote als zeitreich, internetaffin und politisch interessiert. "Alle die sich viel engagieren, bekommen auf einmal viel Macht - und nutzen die auch für ihre Interessen", sagt er. Deswegen findet Eisel, dass die politische Teilhabe durch die Online-Angebote nicht gerechter sondern ungerechter wird. Bei Online-Haushalten hat er festgestellt, dass Vereine mithilfe von E-Mail-Lawinen besonders viele Unterstützer für ihre Anliegen mobilisierten.

Studien geben den beiden Kritikern Recht. Zwar sind der Studie (N)Onliner Atlas 2011 zufolge mittlerweile rund 75 Prozent der Deutschen im Netz unterwegs, doch zwischen den Generationen und Bildungsabschlüssen klaffen gewaltige Lücken. Fast 40 Prozent mit Volks- und Hauptschulabschluss sind noch offline. Bei den Abiturienten sind es dagegen nur knapp zehn Prozent. Noch gravierender sieht es bei den Altersgruppen aus. Während von den über 50-Jährigen nur jeder zweite Deutsche im Internet surft, gibt es unter den 14- bis 29-Jährigen fast niemanden mehr ohne Internetanschluss.

Dazu passen auch die Daten, die Stephan Eisel bei Bürgerhaushalten gesammelt hat. In Hamburg waren nur zwei Prozent der registrierten Nutzer älter als 64 Jahre. In Köln kamen die über 60-Jährigen auf immerhin elf Prozent. Ihr Anteil an der Bevölkerung ist aber drei Mal so hoch.

Digitale Beteiligung kein Selbstläufer

Selbst Martin Haase kann diese Argumente kaum von der Hand weisen. Der Romanistik-Professor ist so etwas wie der geheime Star der Piratenpartei. In deren Software Liquid-Feedback bestimmt er oft die Diskurse und hat viele Anhänger, die ihm ihre Stimme delegiert haben. Damit kann er in Liquid Feedback auch für andere wählen - manchmal mit über 160 Stimmen.

Haase gibt zu, dass es auch bei der digitalen Mitbestimmung immer Leute gibt, die nicht mitmachen. "Wir schließen aber niemanden aus", sagt er im Gespräch mit der SZ. Eine digitale Elite sei deswegen immer offen für neue Mitglieder. Um möglichst viele Bürger zum Mitmachen zu bewegen, setzt er auf Belohnungsmechanismen. Nur wenn es Feedback gebe, würden sich die Menschen engagieren. "Ich bin ja selber nur so engagiert, weil ich so viele gute Rückmeldungen bekomme", sagt Haase. Er glaubt, dass sich die digitalen Mitmach-Werkzeuge in den nächsten fünf Jahren überall durchsetzen.

Zumindest für Bonn könnte Haase Recht behalten. Dort geht Dirk Lahmann davon aus, dass es auch in den kommenden Jahren Bürgerhaushalte geben wird. Die geringe Beteiligung dieses Jahr erklärt er auch mit dem kleineren Etat für Anzeigen und Öffentlichkeitsarbeit im Vergleich zum Vorjahr. "Man muss für Bürgerbeteiligung werben", sagt Dirk Lahmann. "Ein Selbstläufer ist das nicht."

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