DFB-Elf vor dem EM-Start:Warum Löw Dortmunder lobt, aber Bayern spielen lässt

Sie haben die Meisterschaft und den Pokal gewonnen, doch in der Nationalmannschaft spielen die Dortmunder Akteure nur eine untergeordnete Rolle. Bundestrainer Löw orientiert sich bei der Aufstellung an anderen Kriterien. Wie gehen die BVB-Spieler mit ihrer Degradierung um? Und wie wahrscheinlich sind Unruhen im Binnenklima von Joachim Löws Team? Erklärungen zu den wichtigsten Baustellen.

Christof Kneer und Philipp Selldorf, Danzig

In den Tagen vor dem EM-Start haben sich circa 10.000 Experten zu den Qualitäten und Aussichten der deutschen Mannschaft geäußert. Weltfußballer wie Cruyff, Gullit, Platini oder Bobic haben erklärt, dass sie die DFB-Auswahl als Titel-Favoriten sehen. Nur aus Dortmund, der Heimat des deutschen Meisters, kamen etwas andere Töne: "Wenn man Meister und Pokalsieger wird, dann darf man davon ausgehen, dass diese Leistung auch bei der Nationalmannschaft gewürdigt wird", hat Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke gesagt.

Aufstellung GER - POR

Es ist klar, dass die Berufung von vier Dortmundern ins DFB-Team seiner Meinung nach nicht genug der Würdigung ist. Watzke will seine Dortmunder auch spielen sehen. Doch Bundestrainer Joachim Löw scheint andere Pläne zu haben. Seine Ideen orientieren sich an der Entwicklung der Mannschaft seit der WM 2010. Was das für die Aufstellung und den Fußball der Mannschaft und das Binnenklima bedeutet, soll die folgende Analyse zeigen.

Gegenüber dem Kader von 2010 sind neun Spieler hinzugekommen. Joachim Löw hat noch besseres Personal zur Verfügung: Die jungen Spieler von damals sind erfahrener geworden, Khedira, Özil, Klose und Mertesacker haben in der Fremde dazugelernt, hochbegabte Neulinge wie Reus, Schürrle, Bender, Götze wurden angeworben. Auf diese Qualitätssteigerung hat Löw reagiert.

Er hat das Jahr 2011 als Zwischenjahr genutzt, um den Spielstil zu ändern - weg vom Reaktionsfußball hin zum Aktionsfußball. Früheres Angreifen, mehr eigene Spiel- gestaltung, mehr Kombinationen, mehr Ballbesitz. Das entspricht einerseits den neuen Anforderungen, die von den Gegnern gestellt werden; andererseits dem ästhetischen Anspruch, den Löw stellt.

Deutschland ist jetzt eine anerkannte Großmacht, die Mannschaft kann sich nicht mehr erlauben, Außenseiterfußball zu spielen. 2010 brachte Deutschland eine junge und unerfahrene Mannschaft zur WM. Neuer, Badstuber, Khedira, Müller, Özil wurden durch ihr Alter entlastet, sie gingen als Außenseiter ins Achtelfinale gegen England; und nachdem sie den trägen Gegner 4:1 besiegt hatten, hieß es vor dem Viertelfinale gegen die vermeintlich beinharten Argentinier: "Das ist nicht die U21-EM, jetzt kommt Walter Samuel, genannt die Mauer. Daran werden sie abprallen." Deutschland gewann 4:0.

Damals spielten die Deutschen einen niveauvollen, gut organisierten Konter-Fußball mit künstlerischer Note. Die Engländer waren ein geeignetes Opfer, die Argentinier, die strategisch stümperhaft eingestellt waren, erst recht. Doch trotz ihrer vielen Tore und trotz der weltweiten Hymnen auf ihr Angriffsspiel war die deutsche Mannschaft eine vom Defensivdenken geprägte Mannschaft. Ähnliches lässt sich heute über Borussia Dortmund sagen.

Die Nationalmannschaft spielte 2010 einen modifizierten Dortmund-Fußball, obwohl kein Borusse im Kader stand und das Team die meisten Spieler von Louis van Gaals FC Bayern bezog. Auch damals hatten die Bayern im Champions-League-Finale gestanden, seinerzeit aber als Doublegewinner. Doch den führenden Fußballstil der Liga wollte Löw nicht übernehmen. Er hatte seine eigene Vorstellung.

Und auch heute übernimmt Löw den Fußball des aktuellen Doublegewinners nicht, weil er meint, dass er nicht zu seiner Mannschaft passt. Das Nationalteam spielt stattdessen eine von Löw entwickelte, beschleunigte und zielstrebigere Form des Bayern-Fußballs. Der reale Bayern-Fußball verliert seiner Ansicht nach zu viel Zeit auf dem Weg nach vorn.

Unterschwellig wird im deutschen Lager unterstellt, dass die Dortmunder nur Dortmund-Fußball spielen können: hoch stehen, pressen, doppeln, mit drei Mann drauf gehen, auf den zweiten Ball gehen und dann alle Mann nachrücken, pro Nase mindestens 16,5 Kilometer rennen - Insektenfußball mit hoher Leidenschaft. Beeindruckend, wie auch Löw findet. Aber nicht das richtige Konzept für die Nationalelf, wie er meint, schon aus praktischen und personellen Gründen.

Die vielen Qualitäten des Dortmunder Spiels finden durchaus Anerkennung im Team, es ergibt sich bloß die Frage, wie viel sich davon integrieren lässt. Dazu der Zeuge Holger Badstuber: "Am besten wäre eine Mischung. Dortmund ist gut gestaffelt, gut positioniert, da ist es schwer durchzukommen. Jeder denkt für jeden. Wir bei der Nationalmannschaft wollen aber mehr nach vorne machen, wir wollen nicht nur hochstehen und auf den zweiten Ball gehen. Das kann ein probates Mittel sein, aber wir haben zu viele gute Fußballer." Zu viele gute Fußballer. Interessante These.

Zu viele gute Spieler

"Unser Spielstil bei Bayern ist Dominanz, Passsicherheit und viele verschiedene Stationen", sagt Badstuber. Das führt in München dazu, dass die Bayern manchmal stundenlang um ihr Ziel kreisen. Das will Löw nicht. Er will, dass es so schnell geht wie in Dortmund, doch nicht mit den Dortmunder Methoden. Er will nicht nur aus der Reaktion heraus schnell spielen, sondern aus der Aktion, die seine Mannschaft selbst kreiert. So, wie es in Barcelona ist.

EM-Kader der deutschen Nationalmannschaft

Löw hat Lahm den Posten auf der linken Seite zugeteilt, obwohl der Münchner zuletzt auf rechts glänzend gespielt hat. Löw weiß, dass Lahm rechts mit Müller hervorragend harmoniert. Dennoch muss der Kapitän links antreten. Sicherlich auch, weil er Podolski absichern soll, der durch sein Defensivverhalten für die eine oder andere Lücke sorgt; aber auch weil Löw Schmelzer nicht ausreichend vertraut. In Dortmund ist Schmelzer ein tragendes Element des Spiels. Im Grunde ist Löws Entscheidung ein Misstrauensvotum.

Vorbehalte gibt es auch gegen Mats Hummels, einen Protagonisten des Dortmunder Stils. Es ist das gleiche Phänomen wie bei Schmelzer. In Dortmund darf Hummels als Abwehrchef seinen fünf Sinnen vertrauen, er darf nach eigenem Ermessen herausrücken bis ins Mittelfeld und das Aufbauspiel variieren. So tritt er manchmal wie ein Spielmacher auf. In der Nationalelf hat er strengere Vorgaben. Das hemmt und verunsichert ihn. Der Dortmund-Hummels und der Deutschland-Hummels sind verschiedene Spieler.

Und warum musste sich Hummels die hohen Spielgestalterbälle abgewöhnen, während Badstuber regelmäßig 60 Meter weite Diagonalpässe auf Müller schlagen darf? Weil Badstubers Bälle auf Müller ankommen, weil sie einer eingeübten Spielsituation entsprechen. Hummels findet keine Adresse für seine riskanten Zuspiele, schon gar nicht solche, die er aus Dortmund kennt.

Die Fraktionen im Kader belauern sich: Hier die Dortmunder, dort die Bayern. Die Geschichte der Saison, in der die Dortmunder die Bayern nicht nur dreimal besiegt, sondern im Pokalfinale auch bloßgestellt und gedemütigt haben, wirkt unterschwellig nach. Der gekränkte Bayernstolz lässt sich nicht dadurch löschen, dass man in ein anderes Land gereist ist und ein anderes Trikot trägt.

Ähnlich empfinden die Dortmunder, die gekränkt und irritiert sind, dass sie in Löws Plänen nicht vorkommen, obwohl er den Fußball der Borussia doch immer öffentlich gelobt hat. Stattdessen hat der Bundestrainer zuletzt die Botschaft vermittelt, dass eine EM nicht mit der Liga zu vergleichen sei: "Wir spielen - bei allem Respekt - nicht gegen Augsburg, Nürnberg und Hoffenheim." Für die Dortmunder klingt das wie eine Geringschätzung, fast herablassend.

Der Konflikt kann nebensächlich bleiben, im Erfolgsfall löst er sich in Luft auf. Auch Watzke wird dann gratulieren. Der Konflikt kann aber auch ein schleichendes Gift sein. Die Abwehr ist dafür der potenzielle Entzündungsherd. Wenn das Provisorium mit den Aushilfsrechtsverteidigern Boateng, Bender und Höwedes nicht funktioniert, wird es heißen: Warum spielt nicht Lahm auf rechts und Schmelzer auf links? Und warum spielt im Zentrum Mertesacker, der vier Monate verletzt war, statt Hummels, der Hauptdarsteller des Double-Triumphs, den viele als den besten deutschen Innenverteidiger betrachten?

2010 gab es die Debatte, ob die Mannschaft ohne Ballack auskommen kann, der wegen seiner Verletzung nicht mehr dem Kader angehörte. Diesmal gibt es die Debatte innerhalb des Kaders. Sie kann eine ständige Begleitmusik durchs Turnier werden. Entweder so leise, dass sie keiner hört. Oder schrill und unangenehm.

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