Olympische Sommerspiele in London:Dabei sein ist fantastisch

Die Sicherheit ist ein Problem, die Kosten sind aus dem Ruder gelaufen, der Kommerz ist bizarr - und manche Heldengeschichte ist in Wahrheit eine Geschichte des Betrugs. Trotzdem besteht die Chance, dass die Spiele in London an Würde zurückgewinnen. Denn dort weiß man ziemlich gut, wie man lässig eine Party feiert.

Christian Zaschke, London

Das war dann doch erstaunlich, als Jacques Rogge, Präsident des Internationalen Olympischen Komitees und gemeinhin als sanfter Mann bekannt, am Montag im Interview mit der BBC sagte: "Hört mal, Briten, Ihr habt doch nicht alle Latten am Zaun!" Und Rogge setzte nach: "Da hättet ihr auch gleich ein Einladungsschreiben an den internationalen Terrorismus verfassen können: ,Liebe Terroristen, wir sind zu blöd, hier während der Spiele für Sicherheit zu sorgen. Kommt doch und sprengt was in die Luft'."

Olympics - Previews - Day - 1

Es geht los: Die XXX. Olympischen Sommerspiele in London beginnen.

(Foto: Getty Images)

Zugegeben, Rogge formulierte es diplomatischer. Er sagte, gewohnt sanft: "Ich bin überzeugt davon, dass es keine Probleme mit der Sicherheit geben wird. Ich bin sehr glücklich über den Stand der Vorbereitungen. Und nun sollten wir uns anderen Themen zuwenden."

Die Sicherheit ist vor diesen Spielen das große olympische Thema. Das hat mehrere Gründe. Niemand in London hat vergessen, dass sich einen Tag, nachdem die Stadt 2005 den Zuschlag für die Spiele erhalten hatte, vier Rucksackbomber in drei Zügen und einem Bus in die Luft sprengten. 56 Menschen starben, 700 wurden verletzt. Der Anschlag wirkte wie ein Fingerzeig: Diese Spiele, so schien er zu sagen, werden unter einem bösen Stern stehen.

Die Ausgaben für Sicherheit belaufen sich deshalb auf mindestens 1,3 Milliarden Euro. Der ursprüngliche Plan war, dass 13 000 Soldaten im Einsatz sind, 9500 Polizisten Streife gehen und zudem 10 000 Mitarbeiter der privaten Sicherheitsfirma G4S den Olympischen Park kontrollieren. Doch ist G4S vor knapp zwei Wochen aufgefallen, dass erst 3000 Sicherheitsleute ausgebildet waren. Die Armee stellt also weitere 3500 Soldaten ab, 1500 stehen als Reserve bereit, falls G4S das nächste Versprechen bricht: Knapp 7000 Sicherheitsleute will das Unternehmen bis zum Beginn der Spiele an diesem Freitag bereitstellen.

Allerdings, räumte die Firma ein, könne man nicht garantieren, dass die Mitarbeiter alle Englisch sprechen. Zudem ist zu fragen: Wie gut werden die eilig unterwiesenen Männer und Frauen ausgebildet sein?

Es braucht nicht allzu viel Zynismus, um sich vorzustellen, wie Terroristen die englischen Zeitungen der vergangenen zwei Wochen studieren und denken: "Die Briten haben nicht alle Latten am Zaun. Da hätten sie uns auch gleich ein Einladungsschreiben schicken können." Kürzlich wurde bekannt, dass einige Terrorverdächtige durch die Grenzkontrollen am Flughafen Heathrow geschlüpft sind. Wie das passieren konnte? Erst hat Innenministerin Theresa May viele Grenzbeamte entlassen, weil die konservative Regierung sparen will. Als sich dann zunehmend länger werdende Schlangen in Heathrow bildeten, wurden schnell neue Kräfte eingestellt, denen es an Erfahrung mangelte.

Natürlich hoffen auch die größten Zyniker nicht darauf, dass es in London einen Anschlag gibt. Und wenn am Ende alles gut geht, dann könnten diese Spiele sogar eine Chance sein für den olympischen Sport. Es könnten, mit ein wenig Glück, wieder Spiele mit einem besonderen Geist werden, Spiele, die vielleicht sogar von dem Gedanken bestimmt werden: Dabei sein ist zwar nicht alles, aber Dabei sein ist doch ziemlich fantastisch. Das liegt zum einen daran, dass London eine genuin sportbegeisterte Stadt ist, und es liegt zum anderen daran, dass nach den letzten beiden Sommerspielen die Latte nicht besonders hoch liegt.

Kraftmeierei einer Staatsdiktatur

Die Spiele von 2004 in Athen waren die Spiele der Gleichgültigkeit. Die Bevölkerung hatte größtenteils kein Interesse an der Veranstaltung, und es schien, als hätten auch die Organisatoren den Spielen am Ende die kalte Schulter gezeigt. Rund ums Olympiastadion erstreckte sich eine sandige Ebene, über die der Wind pfiff. Es war wohl nicht mehr genügend Zeit, Rasen zu pflanzen. Staub stand in der Luft, aber das kümmerte niemanden. Noch bevor die Spiele begannen, entwickelte sich eine Farce um die griechischen Sporthelden Kostas Kenteris und Ekaterini Thanou, die einen Motorrad-Unfall fingierten, um einer Doping-Kontrolle zu entgehen. Von staatlichen Stellen wurden sie zunächst gedeckt. Der olympische Geist hatte sich verflüchtigt, bevor die Eröffnungsfeier begann.

2008 in Peking erlebten die Besucher die Kraftmeierei einer Staatsdiktatur. Zu den skurrilen Höhepunkten dieser Spiele des Bombasts gehörten die Turnwettbewerbe, die von chinesischen Mädchen dominiert wurden, die ganz offensichtlich nicht wie erforderlich 16 Jahre alt waren. Sie hatten an Wettbewerben in der Vergangenheit teilgenommen, und aus den Melde-Unterlagen von damals ging hervor, dass sie während der Spiele erst 13, 14 oder 15 Jahre alt sein konnten. Nun aber gab es neue Unterlagen. Die armen Mädchen saßen mit ihren Goldmedaillen vor der Weltpresse, die sie mit ätzendem Spott überzog. Die Funktionäre saßen daneben und lächelten zufrieden. Der olympische Geist? Hatte sich längst verdünnisiert.

In London könnte es nun so werden, wie es im Jahr 2000 in Sydney war. Die Australier berauschten sich an den Spielen, sie feierten eine sehr große und sehr freundliche Party. Es waren allerdings auch die letzten Spiele vor den Anschlägen des 11. September 2001 in New York, die in punkto Sicherheit alles veränderten. Sydney gab knapp 150 Millionen Euro für Sicherheit aus, ein Bruchteil des Londoner Budgets.

Bei den gewaltigen Londoner Zahlen ist nicht einmal klar, was alles eingerechnet ist. Die Kampfjets vom Typ Eurofighter Typhoon, die den Luftraum kontrollieren? Die im Stadtgebiet platzierten Boden-Luft-Raketen, die dazu da sind, im schlimmsten Fall ein entführtes Passagier-Flugzeug abzuschießen? Die zusätzlichen Soldaten? Und wer bezahlt die 1000 bewaffneten US- Diplomaten und FBI-Agenten und die 55 Hunde-Teams, die in der olympischen Zone patrouillieren? London wird in Teilen einem Hochsicherheitstrakt gleichen. Und doch ist es möglich, dass sich eine freundliche Party entwickelt wie in Sydney.

Es ist ein Klischee, aber es ist wahr: Die Briten sind dazu in der Lage, sehr gelassen vor den Sicherheitschecks Schlange zu stehen. Sie vermögen, das wohl unvermeidliche Verkehrschaos stoisch zu ertragen. Sie werden um die Unannehmlichkeiten, die Olympische Spiele für die Bevölkerung bedeuten, aller Voraussicht nach kein größeres Aufhebens machen und stattdessen das Positive sehen: Die sportinteressierte Welt schaut auf Großbritannien, sie schaut auf London. Vor allen Dingen aber sind die Briten patriotisch.

Sobald das "Team GB" die erste Goldmedaille gewinnt, wird der Funke überspringen. Wie man eine Party feiert, weiß man in London mindestens so gut wie in Sydney. Als Anfang Juni die Queen ihr 60. Thronjubiläum mit einer Schiffsparade auf der Themse beging, säumten rund eine Million Menschen den Fluss, sie waren bei apokalyptischem Regen bester Laune.

Es ist weitgehend unbekannt, dass Großbritannien eine besondere Beziehung zur olympischen Bewegung unterhält. Man könnte sogar sagen, dass die modernen Olympischen Spiele ihren Ursprung auf der Insel haben, in einem kleinen Örtchen in Shropshire namens Much Wenlock, knapp 200 Kilometer nördlich von London. 1850 gründete dort der Lehrer William Penny Brookes "The Olympian Class", die sich der körperlichen und geistigen Ertüchtigung vor allem der Arbeiterklasse widmen wollte. Jährlich gab es in den folgenden Jahren Veranstaltungen, zu denen anfangs auch eher muntere Sportarten gehörten wie Schubkarrenrennen für Zweier-Teams: Einer schob, einer spielte die Schubkarre. 1860 wurde die "Olympian Class" zur "Wenlock Olympian Society", die Olympische Spiele in Wenlock veranstaltete.

Pierre de Coubertin, der als Vater der modernen Spiele gilt, besuchte die Olympian Society im Jahr 1890. Die Arbeit von William Penny Brookes inspirierte ihn dazu, 1894 das Internationale Olympische Komitee (IOC) zu gründen. Es wurde beschlossen, ab 1896 die antike Tradition der Olympischen Spiele neu zu beleben. Die ersten Spiele der Neuzeit fanden in Athen statt. London war 1908 erstmals olympischer Gastgeber, 1948 zum zweiten Mal. Die Nachkriegs-Spiele von 1948 gingen als "Spiele der Sparsamkeit" in die Geschichte ein.

Unter dem gleichen Motto sollten auch die Spiele von 2012 stehen. Das Budget war bei der Bewerbung mit rund 2,5 Milliarden Pfund angegeben worden, etwas mehr als drei Milliarden Euro. Lächerlich wenig. Nun kosten die dritten Londoner Spiele 9,3 Milliarden Pfund. Offiziell.

Zwei Maskottchen gibt es für die Olympischen und die Paralympischen Spiele 2012, es sind freundlich-groteske Zyklopen, die Mandeville und Wenlock heißen. Wie Wenlock trägt auch Mandeville einen Namen, der in die Sportgeschichte weist: Er ist nach dem Ort Stoke Mandeville benannt, in dem 1948 eine Weltmeisterschaft für behinderte Sportler stattfand, die zur Vorlage für die Paralympischen Spiele wurde. Was die Briten mit dieser Namensgebung sagen wollen: Der olympische und der paralympische Sport kommen 2012 endlich nach Hause.

Gros der Doper bleibt unentdeckt

Für die Londoner selbst könnten die Spiele zudem etwas Besonderes werden, weil sie über den Sport hinausweisen, weil sie etwas Größeres hinterlassen als die Erinnerung an eine schöne Party und junge Menschen im sportlichen Wettkampf. Die Bewerbung um die Spiele wurde vom damaligen Londoner Bürgermeister Ken Livingstone mit größtem Eifer unterstützt. Er wurde "Red Ken" genannt, weil er politisch so weit links stand. Er war vollkommen unverdächtig, Sympathien für ein Auslesesystem wie staatlich alimentierten Spitzensport zu hegen.

Tatsächlich hat er nach der Vergabe der Spiele zugegeben, dass ihm der Sport reichlich egal war. Ihm ging es darum, Milliarden von Pfund in die Entwicklung des Londoner Ostens investieren zu können. Der Osten ist der arme Teil einer Stadt der finanziellen Extreme, in der Oligarchen in Palästen thronen und Einwandererfamilien zu zehnt in winzigen Wohnungen hausen. Livingstones Plan scheint aufzugehen. Die Infrastruktur im Osten hat sich massiv verbessert, und der Olympische Park im Stadtteil Stratford wird nach den Spielen der Bevölkerung des Ostens offenstehen.

Vor sieben Jahren bestand das Areal aus industriell verseuchtem Boden, auf dem sich unter anderem der "fridge mountain" erhob, der Kühlschrankberg, der aus weggeworfenen Elektrogeräten bestand. Heute erstreckt sich dort ein Park mit Sportstätten, deren Weiternutzung größtenteils garantiert ist. Stilprägend ist die Gestaltung des Schwimmstadions: Der wunderbare Entwurf der Architektin Zaha Hadid wird während der Spiele mit zwei temporären Zusatztribünen verschandelt, damit das Stadion genügend Zuschauer fasst. Nach den Spielen werden diese Tribünen abgebaut. Es ist eine bemerkenswerte Entscheidung für vorübergehende Hässlichkeit vor den Augen der Welt - und eine mutige Entscheidung für die Nachhaltigkeit.

Man muss sich keine Illusionen machen: Es geht auch bei den Spielen in London um Spitzensport, mit allem, was dazu gehört. Es werden nicht alle Sportler sauber sein, und das Gros der Doper bleibt unentdeckt. Manche, vielleicht sogar viele der Heldengeschichten sind in Wahrheit Geschichten des Betrugs. Aus den Ländern, in denen, wie es im IOC gern heißt, die "Menschenrechte noch nicht voll verwirklicht sind", werden Staatssklaven anreisen, die zum Ruhme des Regimes ein Leben der Entbehrung führen und ihre Körper ruinieren müssen. Es sind überdies die Spiele der internationalen Großkonzerne, und dass seit vielen Jahren die Dickmacher Coca-Cola und McDonald's exklusiv mit den olympischen Symbolen werben, ist, auch wenn man zum tausendsten Mal daran denkt, schlicht bizarr.

Es gibt keinen Grund, sich auf einer kritiklosen Welle der Begeisterung davontragen zu lassen von dieser in vielerlei Hinsicht monströsen Großveranstaltung. Und die Sicherheit gibt wirklich den größten Anlass zur Sorge. Doch wenn es friedlich bleibt, besteht nach den Ausflügen gen Athen und Peking die Chance, dass die Sommerspiele im multikulturellen, im liberalen, im lässigen und immer aufgeweckten London an Würde zurückgewinnen.

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