Hesse-Biografien zum 50. Todestag:Streunender Wolf in ernsten Alleen

Er ist nervig, er ist antiquiert und nicht selten wird ihm faseliges Hippietum unterstellt. Dennoch ist Hermann Hesse ein Brett auf dem Buchmarkt, bis zu 400.000 seiner Titel werden jedes Jahr verkauft. Pünktlich zum 50. Todestag führen zwei neue Biografien durch das Leben des schwäbischen Buddha.

Matthias Waha

Hermann Hesse ist eine Zumutung. Diese Fachwerk-Provinzstädtchen, diese Blumenwiesen, diese glitzernden Bäche mit den Forellen drin. Zu allem Überfluss das Alltäglichste mit Bedeutung überfrachtet, wie diese Straßen mit vielen Bäumen: "In den großen, ernsten Alleen standen die alten Kastanien, Linden und Platanen kahl und hager im Sturm wie eine trübselig standhafte Armee von Greisen." Und erst diese sentimentalen, esoterischen, hoffnungslos kitschigen Geschichten über die verschlungenen Pfade zum eigenen Ich. In Hinterindien am Fluss sitzen und Fähre fahren, wie Siddhartha, keiner will das für länger.

Hermann Hesse - 50. Todestag

Vor fünfzig Jahren, am 9. August 1962, starb Hermann Hesse im Alter von 85 Jahren in Montagnola im Tessin.

(Foto: dpa)

Aber Hermann Hesse wollte nie etwas anderes sein als eine Zumutung. Er sagt: "Wenn ich dichte, so vergesse ich häufig alle Anforderungen, welche gebildete Leser an ein richtiges Buch stellen, und vor allem fehlt mir in der Tat die Achtung vor der Wirklichkeit." In dieser ironischen Bemerkung steckt der Kern seiner Philosophie: Die gegebenen Umstände, sie sind nicht dafür da, sich in sie einzufügen, sie sind dazu da, sie zu überwinden. Akzeptanz ist Stillstand, Anpassung ist Philistertum. Hesse dagegen ist ein Wanderer, ein streunender Wolf. Stufe um Stufe auf der Suche nach dem, was er ist.

Seine Grundannahme über den Menschen: Jeder habe seine ganz eigene Bestimmung und glücklich werde nur der, der den Mut aufbringt, sie gegen alle Wirklichkeit zu verwirklichen. Nicht umsonst stellt sein Alter Ego Emil Sinclair seiner Geschichte die Frage voran: "Ich wollte ja nichts als das zu leben versuchen, was von selber aus mir heraus wollte. Warum war das so sehr schwer?"

Ist das tatsächlich nur Hippie-Gerede und Teenager-Revolte? Nietzsche, Camus, Hesse, die drei vom Amt für halbstarke Individuen mit Hang zur Melancholie? Vielleicht helfen Zahlen: Der Suhrkamp-Verlag teilt auf Anfrage mit, dass in der Regel jedes Jahr zwischen 350.000 und 400.000 Hesse-Titel verkauft werden. Auf diesen Schwaben lässt sich gemütlich bauen, er ist ein Brett auf dem Buchmarkt. Und Ausdruck einer Faszination, die die einen nicht (mehr) verstehen und die den anderen literarische Medizin ist. Hesse kann man einfach nicht lesen wie ein normales Buch, entweder man tritt hinein oder man bleibt draußen.

Kaum einer wird vergessen, wie ihm Hesse einst das Gefühl gab, direkt aus der Seele zu sprechen. Die Jugend identifiziert sich wohlig mit Weltschmerz, Einsamkeit, Liebesleiden. Wo man eben so überall durch muss. Aber wie steht die Sache heute, mit klarem Blick betrachtet? Das "Glasperlenspiel" ist freilich eine schöne, kluge Utopie. Und außerdem recht langweilig. Was ist mit den Werken der Zwischenkriegsjahre, in denen Hesse am stärksten ist und diverseste Krisen verarbeitet, im "Demian", im "Siddhartha", im "Steppenwolf"? Antimodernes Innerlichkeitsgefasel findet man hier nämlich nicht nur.

Urbild aller Terminator-Filme

Obgleich es in Hesses Büchern eben keine Metropolen oder soziale Fragen gibt, weil Entfremdung für ihn ein geistig-subjektives Phänomen ist, kein materialistisches, obgleich sein biblisch-naiver Erzählton antiquiert ist und sein Gehabe, als wäre er als kleiner Junge in einen Topf Weisheit gefallen, des Öfteren nervt, ist er ein Autor gerade für unsere Gegenwart.

Kapitalismus? Fand Hesse immer schon doof. Natur? Mochte er zeitweise lieber als seine Mitmenschen. Soziale Dauerverfügbarkeit? E-Mails hätte er begrüßt, der Briefe-Vielschreiber, andere Eingriffe in die Privatsphäre rigoros bekämpft (schon seine drei Ehefrauen waren ihm eigentlich zu viel). Globalisierung? Autonome Weltbürger des Geistes hätte er sich gewünscht, keine Gleichmacherei. Technik? Da war seit je ein Zerstörungsdrang auszumachen, man denke an die wilde Autojagd im "Steppenwolf", das Urbild aller Terminator-Filme, Mensch gegen Maschine in der finalen Schlacht.

Dem Untergründigen nachlauschen

Wie nicht anders zu erwarten, gibt es im Jubiläumsjahr neue Hesse-Biografien (und gar eine Hesse-Smartphone-App). Die zwei neuen Biografien eignen sich, den schwäbischen Buddha und schweizerischen Franziskus neu kennenzulernen, jede aber auf ihre eigene Art.

Heimo Schwilks kenntnisreiches Buch liest sich flott, obwohl sein dichterischer Stil, der schon mal eine spekulative Innensicht in Hesses Gedanken zulässt, stellenweise einen schalen Nachgeschmack hinterlässt. Effekt und Sachlichkeit vertragen sich nicht immer. Überraschender aber ist, dass man schnell den Verdacht schöpft, der Biograf könne sein Beschreibungssubjekt nicht allzu gerne leiden. Hesse als spinnerter Künstler? Ihn kennzeichne, so Schwilk, "krankhafte Empfindlichkeit" und ein "eklatanter Mangel an Fürsorge, Empathie und Verständnis".

Jemanden, der nicht zur Beerdigung seiner eigenen Mutter geht, kann man durchaus so bezeichnen, selbst wenn man bedenkt, wie schwer sie den jungen Hermann verletzt hat mit ihrer aus dem Pietismus geborenen Ignoranz gegenüber seinen dichterischen Anfängen. Dann aber ist da noch Schwilks roter Faden, der etwas überstrapaziert wird: Hesse könne nur schöpferisch sein, wenn er leide; deswegen suche er das Leid absichtlich.

Mit der zweiten Folgerung nimmt der Biograf die Kopf- und Augenschmerzen, an denen Hesse ein Leben lang litt (beidseitiger Bügelmuskelkrampf und eine verpatzte OP an den Tränenkanälen), nicht mehr ernst, bezeichnet seine Klagen als "Akte der Selbstkonstitution". Das Spiel aus Abstand und Empathie, das Lebensbeschreibungen innewohnt, hat in Schwilks "Das Leben des Glasperlenspielers" eindeutig Schlagseite. Ein angenehmes Buch für notorische Hesse-Hasser.

Hesse auf den Grund gegangen

Gunnar Decker auf der anderen Seite lässt sich in seiner umfangreicheren Biografie "Der Wanderer und sein Schatten" mehr Zeit, ihm ist das Detail wichtiger als der Fortgang der Erzählung. Hesses enge Beziehung zum Wein, sein Hang zum Pyromanen, diese kleinen Dinge beleuchten den Charakter in seiner Vielfalt. Wie beim Nähen mit Steppstich wird die Chronologie vorangetrieben, zwei nach vorne und dann noch einmal zurück, damit alles gut zusammenhält. Der genaue Blick auf Eltern und zeitspezifische Hintergründe erlaubt eine um Verständnis bemühte Einordnung des notorischen Einzelgängers Hesse in größere Zusammenhänge.

Vieles, was am Mythos schon nicht mehr hinterfragt wird, holt Decker auf den Boden zurück. Der legendäre Ausbruch des 14-Jährigen aus dem Seminar Maulbronn etwa ist hier schlicht der jugendliche "spontane Entschluss, nicht das zu tun, was von einem erwartet wird"; ein Ausflug, keine geplante Flucht. Sicher ist Decker auch in seinen großinterpretatorischen Ansätzen: "Hesse wird es zu einer - oft unterschätzten - Meisterschaft bringen, den Geist seiner Zeit mit dem Geist aller Zeiten schreibend so zu verbinden, dass er den herrschenden Zeitgeist bloßstellt." Weltliteratur ist zeitlos. Wer sich in Zukunft mit Hesse beschäftigt, kommt an dieser prallvollen, unaufgeregten Biografie nicht vorbei.

Hermann Hesse, der selbst die Welt gern in widerstrebenden Polen deutete, ist sowohl eine Zumutung als auch eine Notwendigkeit. Und das nicht nur für Teenager und Senioren, seine offensten Anhänger, sondern auch für den Rest. Schon Hugo Ball, sein allererster Biograf, stellt 1927 fest: "Hermann Hesse ist der letzte Ritter aus dem glanzvollen Zuge der Romantik. Er verteidigt die Nachhut." Wer die Romantik abschnürt, tötet das Herz. Ein paar Abende im magischen Theater der Romanfiguren Haller, Knecht und Camenzind - und schon sieht man die Welt mit ganz anderen Augen.

Dem Verborgenen, Untergründigen gilt es nachzulauschen. Klar muss man am nächsten Tag wieder in die Schule, aber unters Rad gerät man nicht mehr so leicht. Immer nur vernünftig sein, das ist nichts: "Was ist dümmer und macht unglücklicher als Gescheitheit!"

Vor fünfzig Jahren, am 9. August 1962, starb das weise Kind Hermann Hesse im Alter von 85 Jahren in Montagnola im Tessin frühmorgens an einem Hirnschlag. Kampflos entschlafen, so lautete der Kommentar des Arztes. Das Leben war schließlich Kampf genug.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: