Joschka Fischer zu Afghanistan:Wer abzieht, holt die Taliban heran

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Die Nato muss in Afghanistan bleiben - aber mit einer Strategie aufhören, die die gegnerischen Taliban jeden Tag nur stärker macht.

Joschka Fischer

Es sieht nicht gut aus in Afghanistan. Die Taliban werden militärisch und politisch immer stärker, Präsident Karsai verliert wegen der grassierenden Korruption unter seiner Regierung und des offensichtlichen Wahlbetrugs weiter an Unterstützung in Bevölkerung und internationaler Öffentlichkeit. In den USA macht sich der Überdruss an dem Krieg in Afghanistan breit, und die europäischen Nato-Mitglieder würden ihre Soldaten lieber heute als morgen abziehen.

Nato-Soldaten in Afghanistan (Foto: Foto: dpa)

Der Westen scheint in dem Land am Hindukusch die Orientierung verloren zu haben - jenem "Friedhof der Imperien", wie es nach dem britischen Desaster im Januar 1842 genannt wurde, bei dem von 16.000 Mann nur ein Einziger überlebt hatte. Wofür kämpft die Nato eigentlich am Hindukusch?

Europa schweigt zu dieser Frage und möchte nur noch eines, nämlich raus. In den USA findet diese Debatte immerhin noch statt. Folgt man ihr, so muss man zu der Auffassung gelangen, dass es letztlich um einen militärischen Sieg der Supermacht über die Taliban geht, damit Amerika dann endlich abziehen kann.

Bei der Suche nach der Antwort auf die Frage, worum es in Afghanistan tatsächlich geht, wird man die Antwort nicht allein oder vor allem in dem Land selbst finden. Afghanistan ist das Schlachtfeld, aber die Ursachen für die Kriege und Bürgerkriege, die seit Mitte der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts dieses Land verheeren, lagen und liegen jenseits seiner Grenzen. Es wird also keine alleinige "afghanische Lösung" geben können.

Drei Daten sind für das Verständnis des aktuellen afghanischen Knotens von zentraler Bedeutung: 1989, 2001 und 2003. Im Jahr 1989, als der Kalte Krieg zu Ende ging, verließ die Rote Armee das Land und gestand damit ihre Niederlage ein.

Nach der Sowjetunion zogen sich auch die USA aus diesem Konflikt zurück - sie gaben die Unterstützung der Mudschaheddin auf. In diesem Augenblick begann der zweite afghanische Krieg, getarnt als Bürgerkrieg, aber in Wirklichkeit war es ein Stellvertreterkrieg der Nachbarn um die Macht am Hindukusch.

Pakistan, unterstützt von Saudi-Arabien, suchte mittels der von seinem Geheimdienst ISI geschaffenen und ausgerüsteten militanten Koranschüler aus den afghanischen Flüchtlingslagern (den Taliban) strategische Tiefe gegenüber seinem Erzfeind Indien.

Im Westen des Landes wiederum verteidigte das Nachbarland Iran seine Interessen sowie die der schiitischen Minderheit. Und im Norden wurde die tadschikische Nordallianz wie auch die Usbekenmiliz durch die nördlichen Nachbarn (und dahinter durch Russland) unterstützt und ausgerüstet.

Im Schatten dieses zweiten, im Westen fast vergessenen afghanischen Krieges etablierte sich im Afghanistan der Taliban die Terrororganisation al-Qaida des Osama bin Laden, die am 11. September 2001 die USA angreifen sollte. An jenem Tag begann der dritte Krieg in Afghanistan, der bis heute anhält.

Das afghanische Rätsel

Und im März 2003 begann dann George W. Bush seine Invasion des Iraks, die nicht nur Amerikas militärische Kraft völlig unnötig vergeuden sollte, sondern darüber hinaus eine Verknüpfung all der zahlreichen einzelnen Krisen zwischen der Ostküste des Mittelmeers und dem Tal des Indus nach sich zog. Denn Iran wurde durch diese Torheit der USA in die zentrale Rolle in der gesamten Region befördert - und durch Iran der westliche und der östliche Teil jenes weiten Krisengürtels miteinander verbunden.

Wer daher heute eine Antwort auf das afghanische Rätsel sucht, wird zuerst und vor allem von der Region her denken müssen: Kann sich der Westen einen Rückzug aus dieser Region erlauben? Wenn ja, dann sollte man aus Afghanistan sofort abziehen. Wenn nein, dann sollte man über einen Abzug und die Strategie dazu nicht mehr diskutieren.

Der Preis eines Rückzugs des Westens aus dieser Krisenregion ist absehbar, denn man hat es dort mit kumulierten Bedrohungen zu tun, welche die westliche Sicherheit gefährden und die mit einem Abzug aus dem Irak und Afghanistan nicht verschwinden werden: Terrorismus, islamistischer Radikalismus, nukleare Bedrohung (Pakistan, Iran), Stellvertreterkriege und regionale Konflikte (Nahost, Irak, Afghanistan, Kaschmir), drohender Zerfall von Staaten (Irak, Afghanistan, Pakistan, langfristiger am Persischen Golf und auf der arabischen Halbinsel). Mit anderen Worten: Ein Abzug würde nur bedeuten, die Konfrontationslinie zu verschieben, von Afghanistan näher an Europa.

Die politische und terroristische Bedrohung nähme wieder zu. Ob ein solcher Schritt mehr Sicherheit bringen wird, muss deshalb nachdrücklich bezweifelt werden. Andererseits erweist sich die bisherige Strategie des Westens in Afghanistan ebenfalls als wenig erfolgreich. Sie macht die Taliban mit jedem Tag nur stärker. Was also tun?

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Erstens klar das Ziel definieren: einen stabilen Status quo in Afghanistan, der verhindert, dass das Land erneut zum Schlachtfeld der regionalen Interessen und zur Basis von al-Qaida wird. Dieses Ziel wird ohne ausreichende militärische Präsenz sowie verbesserte und verstärkte Wiederaufbauleistungen nicht erreichbar sein.

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Zweitens muss ein regionaler Konsens über die Zukunft Afghanistans erneuert werden, um so auch zu verhindern, dass der afghanische Krieg die Nuklearmacht Pakistan weiter destabilisiert. Dies setzt voraus, dass die Interessen Pakistans, Irans, aber auch Indiens, Saudi-Arabiens und vermutlich auch Chinas in einen solchen Konsens eingebunden werden.

Der Kaschmir-Konflikt wird dabei vor allem indirekt eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Dies ist keine leichte diplomatische Aufgabe, dennoch aber machbar und müsste das eigentliche Ziel einer neuen Afghanistan-Konferenz sein.

Drittens muss versucht werden, parallel all die Krisen in dieser Gegend einzudämmen und vielleicht sogar zu lösen: Nahost, Irak, Golf, Iran, Kaschmir. Dies ist eine Gleichung mit sehr vielen bekannten Unbekannten, aber wenn zumindest ihre teilweise Entschärfung nicht versucht wird, werden diese bekannten Unbekannten alle Teillösungen immer wieder in Frage stellen.

Die große Frage allerdings bleibt, ob die USA und ihre europäischen Verbündeten für ein solches Unterfangen noch die Kraft, die Ausdauer und den Weitblick haben. Man darf daran zweifeln. Die Alternative dazu wird eine ziemlich chaotische und gefährliche Zukunft in dieser weiten Krisenregion sein. Europa ist ihr direkter regionaler Nachbar.

Joschka Fischer (Grüne), 61, war von 1998 bis 2005 Bundesaußenminister und Vizekanzler. Er schreibt exklusiv für Project Syndicate und die Süddeutsche Zeitung .

© SZ vom 08.12.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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