TV-Kritik "Die große Welt der kleinen Menschen":Guck mal, wie süß

Mit vermeintlich helfenden Formaten versuchen private TV-Sender seit Jahren, menschliches Elend gewinnbringend zu verkaufen. Nun sind die Behinderten dran. Warum? Weil niemand die Sender daran hindert.

Ruth Schneeberger

Angefangen hat vieles mit "Bauer sucht Frau" (RTL, 2005). Nach dem überraschenden und eigentlich unfassbaren Erfolg des erstaunlich hemdsärmeligen Versuches, liebeshungrige Landwirte mit fügsamen Frauen zu verkuppeln, muss bei den Sendern etwas schiefgelaufen sein. Eventuell waren es die Zuschauerzahlen, die von RTL II über Sat 1 bis zu Vox die Programmverantwortlichen dazu animierten, ein Format nach dem anderen zu produzieren, das ebenso tumb, vergleichsweise peinlich und vor allem ähnlich ausbeuterisch funktioniert.

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Ulla Kock am Brink stellt bei Sat 1 in der Sendung "Die große Welt der kleinen Menschen" Kleinwüchsige wie u.a. Michel Arriens (re.) vor. Die letzte Sendung der vierteiligen Doku läuft am 9. September.

(Foto: SAT.1/ André Kowalski)

Von "Extrem schön!" (RTL II, seit 2009; Protagonisten werden vor laufender Kamera per OP-Marathon generalüberholt) über "Schwer verliebt" (Sat 1, 2011; Schwergewichtige sollen zueinander finden, wobei permanent ihr Körpermaß betont wird), bis zu "Villa Germania" (RTL II, 2012; ältere Herren vergnügen sich mit rassistischen und frauenfeindlichen Sprüchen und erheblich jüngeren Thailänderinnen in einer spießigen Wohngemeinschaft): Inzwischen wird versendet, was das Zeug nicht hält. Manche Privatsender überbieten sich geradezu an peinlichen, effekthascherischen Formaten. Vielen ist gemein, dass sie gemein sind. Weil sie sich am Elend ihrer Protagonisten ergötzen und dabei so tun, als wollten sie nur helfen. Trash-TV wird das genannt, dabei sollte es noch passender Scheinheilig-TV heißen.

Denn dass bei "Mietnomaden", "Super Nanny" oder "Messie-Alarm" nicht in erster Linie den vorgeführten Darstellern bei ihren Problemen geholfen werden soll, sondern vor allem der Zuschauer sich wohlig überlegen fühlen darf, ist vielen Fans dieser Sendungen unterschwellig klar. Weshalb fast alle Randgruppen schon mal dran waren - damit sich jeder mal angesprochen fühlt. Und weil nicht alle Formate mit derselben vermeintlich unfreiwilligen Komik und der vorgeblichen Unverfälschtheit der Kandidaten funktionieren wie "Bauer sucht Frau", wird auf der Suche nach dem neuen Kick und dem ins Endlose erneuerbaren Format zu immer schrilleren Plots gegriffen. Es war nur eine Frage der Zeit: Nun sind also die Behinderten dran.

Was vor ein paar Jahren womöglich noch für einen Aufschrei (bei Behinderten-Verbänden oder Öffentlichkeit) gesorgt hätte, läuft nun einfach so im Vorabend-Programm. Weitgehend unbeachtet, weil mittlerweile so normal geworden. "Die große Welt der kleinen Menschen" zeigt bei Sat 1 sonntagabends Kleinwüchsige in ihrem anstrengenden Alltag.

Nicht helfen, sondern gaffen

Fast schon überflüssig zu erklären, dass auch hier nicht geholfen wird, sondern vor allem gegafft. Es gäbe wenig Sinnvolleres im aktuellen TV-Programm als eine ernst gemeinte Sendung über Behinderte und deren Angehörige, die so unaufgeregt wie authentisch den Alltag und die Schwierigkeiten beleuchtet, die behinderte Menschen im Deutschland des 21. Jahrhunderts auszuhalten haben. Wertvoll wäre das, weil aufklärerisch und verantwortungsbewusst. Und: Es täte Not.

2003 ergab eine Langzeitstudie, dass nur sechs Prozent der Behinderten hierzulande sich nicht diskriminiert fühlen. Im Herbst 2012 wird eine neue Studie veröffentlicht werden, die sich mit anhaltender Diskriminierung und sexueller Gewalt gegenüber behinderten Frauen beschäftigt hat. Deutschland ist bei weitem nicht so offen, tolerant oder hilfsbereit, wie es sein könnte. Die Eingliederung Behinderter in die Gemeinschaft steht noch ganz am Anfang. Das Fernsehen als Massenmedium könnte ein Bewusstsein dafür schaffen.

Stattdessen schafft "Die große Welt der kleinen Menschen" vornehmlich ein Wohlfühl-Gefühl á la: Schau mal, wie süß die sind. So klein und doch ganz Mensch.

Da kauft der 21-jährige Michel seiner 19-jährigen Anna ganz viel Wohlfühl-Zubehör und eine Kuscheldecke für die neue Wohnung, der 1,20 Meter große Mark entführt seine 88 cm große Maria auf eine Tour durch Amsterdam, und wir sehen Eike und Ulf beim Spielen mit ihren Hunden. Scheinbar ganz normale Alltagsprobleme tun sich da auf, um dem Zuschauer zu suggerieren: Das sind normale Menschen mit normalen Sorgen, die sind wie wir, müssen auch erst mal dem Hund beibringen, wie man Männchen macht. Kein Wort davon, dass Passanten in vollen Einkaufszonen in Rollstühle rennen - manche unachtsam, andere absichtlich, weil sie sich vom Anblick Behinderter gestört fühlen.

Kein Hinweis darauf, dass viele Kranke jahrelang um Unterstützung und eine Lebensgrundlage kämpfen müssen. Nichts zu sehen von Anfeindungen im Alltag, in der Arbeitswelt oder im Urlaub. Hier ist alles kuschelig und klein und sowas von "normal". Da wird höchstens mal ein zu hohes Klingelschild zum Problemchen - das natürlich mithilfe von Freunden sofort behoben werden kann.

Respekt? Schwierig

Für manche Protagonisten mag es gut sein, zeigen zu können, was alles in ihnen steckt, und damit Vorurteilen begegnen zu wollen, wie etwa Michael Arriens im Interview auf der Sat 1-Homepage zitiert wird. Sat 1 wird damit allerdings den journalistischen Ansprüchen einer Doku nicht gerecht. Auch wenn viele Behinderte nichts schlimmer finden als eben als nicht normal betrachtet zu werden, und in der Tat gibt es gute Gründe dafür, den Begriff "normal" erheblich auszuweiten. Aber: Es gibt noch zu viele Probleme, über die berichtet werden muss, bevor man den Weichzeichner über diese Welt legen darf.

Schlimmer aber noch ist die versteckte Häme, mit der auch diese Sendung - wie in den meisten anderen Formaten dieser Art - den Protagonisten zu Leibe rückt. Nahezu unsichtbar für den, der sich an sowas nicht stört - aber unerträglich für denjenigen, der zwischen den Zeilen zu lesen weiß. Da werden die beiden Kleinwüchsigen Eike und Ulf als "große Hundefreunde" untertitelt, die Kamera fängt die 88 cm kleine Protagonistin in den denkbar ungünstigsten Positionen ein, so dass der Kopf überdimensioniert und der Körper noch kleiner wirkt. Und auch der Ton macht die Musik: Ein Lied mit dem Refrain "Don't bring me down" unter eine Szene mit Kleinwüchsigen zu legen, ist der Redaktion vielleicht lustig vorgekommen. Ist es aber nicht. Alles für den Show-Effekt. Die Betroffenen werden vorgeführt. Wenn auch auf ziemlich subtile Weise. Das macht es nicht besser.

In den USA läuft gerade eine neue Sendung an: Ein siamesisches Zwillings-Pärchen wird in seinem Alltag begleitet. Der Zuschauer sieht in "Joined Life" auf TLC, wie Abigail und Brittany, die sich Leber und Blase teilen, aneinandergewachsen durchs Leben gehen. Es bleibt abzuwarten, ob es dieser Sendung gelingt, mit der nötigen Feinfühligkeit auf das Thema einzugehen, damit es eben nicht effekthascherisch verkauft wird. Die Berichterstattung allerdings macht zumindest schon mal ein bisschen Hoffnung: Zwar schreibt der dpa-Reporter, es könne "keinem Menschen verübelt werden", wenn er "der Frau mit den zwei Köpfen" auf der Straße hinterherstarre. Doch die Zwillinge selbst dürfen betonen, dass sie dafür Verständnis aufbringen - solange ihnen ein Mindestmaß an Respekt entgegengebracht werde. Weshalb in dieser Sendung auch das Problem thematisiert wird, dass die beiden Schwestern sich ein Gehalt teilen sollen. Die New York Daily News schreibt: "Wenn die erste Folge vorbei ist, wird sich die Neugier in Bewunderung verwandelt haben."

Hierzulande scheint das eher schwierig zu sein mit dem Respekt und der Bewunderung. Und das Thema wird in falschen Formaten behandelt. RTL II leistete sich im August beispielsweise nur eine Folge der als Serie angedachten Doku "Go West!". Eigentlich sollte Familie Liebisch aus Erfurt, bekannt aus dem Format "Frauentausch", Las Vegas erobern. Es blieb dann aber doch bei der Pilotfolge. An fehlendem Zuspruch muss es nicht unbedingt gelegen haben. Die erste Folge hat allein im Netz schon fast 100.000 Aufrufe und über 800 Facebook-Empfehlungen. Vielleicht war dem Sender die eigene Sendung dann aber doch zu peinlich. Nachvollziehbar wäre es. Ein Format, das allein darauf setzt, wie ulkig der ebenfalls kleinwüchsige Familienvater ist, ist vor allem eines: schäbig.

Affektfernsehen und Öffentlichkeit

Man kann die Sender zwar einerseits verstehen: Wenn mit vergleichsweise geringen Produktionskosten immer wieder hohe Quoten erzielt werden, bestimmen Nachfrage und die Ausstattung in TV-Redaktionen eben das Programm. So funktioniert das auch in anderen Ländern, Deutschland bildet da keine Ausnahme. Das Problem ist nur: Wir befinden uns seit Jahren in einer Abwärtsspirale, die die Ansprüche immer weiter nach unten drückt. Schleichend hat sich der Zuschauer längst daran gewöhnt, das Elend anderer Menschen zum Abendbrot serviert zu bekommen - und findet es inzwischen normal.

Vor ein paar Jahren galten einzelne Formate noch als Schocker (2009 beschäftigte RTL mit der Teenie-Baby-Doku "Erwachsen auf Probe" sogar Politik und Gerichte) oder Tabubruch (Dieter Bohlens herablassende Äußerungen gegenüber Teenagern bei "Deutschland sucht den Superstar" beschäftigten jahrelang die Landesmedienanstalten). Doch inzwischen scheint jedes Mittel recht zu sein, auf billige Art und Weise Aufmerksamkeit zu erzielen. Dass wir inzwischen ganz unten angekommen sind mit dem Fernsehprogramm, zeigen die aktuellen Sendungen. Spätestens mit der Zurschaustellung von Behinderten im TV sind nun alle Dämme gebrochen.

Schon mit der Ausstrahlung von "Villa Germania" im Sommer wurde klar: Gesendet werden darf inzwischen alles, und sei es noch so geschmacklos. Das wirklich Schlimme ist aber, dass all diese Sendungen Themen behandeln, die eigentlich Aufmerksamkeit verdienen - nur leider auf die völlig falsche Art. "Affektfernsehen" wird in der Medienpsychologie der zunehmende Drang genannt, Formate auf Einzelschicksale, emotionale Befindlichkeiten und die Überschreitung zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit zu fokussieren. Affekt aber ist in diesem Zusammenhang das Gegenteil von Intellekt - man könnte auch sagen: Verdummung.

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