Roman "Das dreizehnte Kapitel":Walsers großes Werk der Liebe

Martin Walsers neues Buch "Das dreizehnte Kapitel" erzählt von einem Paar, das keines sein kann - ein grandioser Briefroman, der von der Liebe nicht nur spricht. Für jüngere Leser mag daran allerdings einiges befremdlich sein.

Christopher Schmidt

Am 20. September 1912 begann Franz Kafkas Korrespondenz mit seiner Verlobten Felice Bauer. Wann genau hingegen die Korrespondenz des Schriftstellers Basil Schlupp mit der Theologieprofessorin Maja Schneilin begann, wissen wir nicht, denn in den ersten Monaten ist ihr Briefwechsel nicht datiert. Dass aber Martin Walsers neuer Roman, der aus ebendiesem fiktiven Briefwechsel besteht und den Titel "Das dreizehnte Kapitel" trägt, fast auf den Tag genau einhundert Jahre erscheint, nachdem Kafka und Felice Bauer anfingen, einander zu schreiben, ist natürlich kein Zufall. Als bloße Koinzidenz könnte diese Übereinstimmung nur durchgehen, wenn Martin Walser nicht der Kafka-Kenner wäre, der er ist. 1951 promovierte er über ihn, der so etwas darstellt wie die Portalfigur seines Weges als Schriftsteller und dessen Werk, ausweislich des jüngsten, im vergangenen Jahr erschienenen großen Essays "Über Rechtfertigung", das bis heute Walsers wichtigste Bezugsgröße ist.

Buchvorstellung 'Das dreizehnte Kapitel' von Martin Walser

Martin Walser am 5. September im Berliner Ensemble bei der Vorstellung seines neuen Romans "Das dreizehnte Kapitel".

(Foto: dapd)

Waren Kafkas "Briefe an Felice" der Versuch, sich eine Wirklichkeit herbeizuphantasieren, so ist Walsers Briefroman eine verwirklichte Phantasie. Beide Bücher handeln von einer unmöglichen Liebe, dem Seelen-Experiment, so nennt es Kafka, einen Menschen allein "mit der Schrift binden" und "halten" zu können. Doch bei Kafka bedeutete diese Unmöglichkeit eine nichtgelebte Möglichkeit, bei Walser wendet sie sich ins Positive und wird zu einer gelebten Unmöglichkeit, "die unmögliche Möglichkeit", um es mit Majas Worten zu sagen. Kafka wollte sein Verhältnis zu Felice in der unverbindlichen Schwebe belassen, die Geliebte auf Abstand halten, und bekennt, als Briefeschreiber ein Betrüger gewesen zu sein, der vor allem sich selbst betrog.

Versilberter Minnesang

Walsers Schriftsteller jedoch kann seine Liebe nicht anders als in Briefen ausleben, da er und seine Angebetete gebunden sind und keiner von beiden daran denkt, seinen Partner zu verlassen. So wird die Schrift zum einzigen Ort ihrer Zweisamkeit, "unsere Buchstabenketten sind Hängebrücken über einem Abgrund namens Wirklichkeit", wie es einmal heißt, und zwar "in die Luft gebaut". Lauter Lippenbekenntnisse im emphatischsten Sinne, die einen Zustand beschwören, "für den es keine Wirklichkeit gibt". Auch als sie sich ein einziges Mal zufällig über den Weg laufen, kommen sie nicht zueinander. Beide leben sie in Berlin, sind irgendwann am Flughafen Tegel unterwegs, er eben angekommen, sie kurz vor dem Abflug. Rufweite ist hier das Äußerste an körperlicher Nähe, gerade so nahe, dass er ihr seine E-Mail-Adresse zurufen kann, womit der Briefkontakt dann auch das Medium wechselt, von Bütten zu Bytes sozusagen. Diese Szene am Gate bringt die Vergeblichkeit berückend ins Bild, zwei Menschen, getrennt-vereint im Drehkreuz des Lebens. Zwei Lieben, die nicht eine werden können.

Dabei beginnt der Roman alles andere als elegisch, eher wie eine auftoupierte Boulevard-Satire. Händchenhaltend sind Basil und seine Frau Iris auf dem Weg zu einem Empfang im Schloss Bellevue zu Ehren von Majas Mann, einem Biologen und Mastermind der Wissenschaft. Basil gibt reflexhaft den Gesellschaftskasper und das Enfant terrible, als ihm Maja ins Auge fällt und ihn gleichsam auf den ersten Blick niederstreckt, seine Existenz aus den Angeln hebt und ihr eine neue Richtung gibt, ein "Mandat", eine "Tendenz". Er fühlt sich "nominiert". Denn über diese Frau kann man nur sagen, was Kafka über seine Felice schrieb: "Sie gefällt mir zum Seufzen." Mit über sechzig Jahren hat Walsers Alter Ego die Liebe noch einmal voll erwischt. Wie ein Vorzeichen erscheint es ihm, dass beide gleichermaßen von der Sonne gebräunt sind, als stammten sie von derselben Insel. Zwei Wochen braucht Basil, bis er sein Herz in die Hand nimmt und den ersten Brief an die "sehr verehrte Frau Professor" sich abzuschicken getraut: Und damit das beginnt, was sie so nennt: "Sie ritzen meine theologische Rüstung mit literarischen Pfeilen."

Was nun folgt, ist Verbalerotik der sublimsten Art, ein versilberter Minnesang, ein Pas de deux der Betörung mit schon leicht rheumatischer Intonation. Doch mit welch wunderwitziger Delikatesse schildert Walser im Wechsel der Perspektiven das schüchtern-forsche Sichumgarnen zweier nicht mehr junger Menschen, mit wie viel Zartheit und graziler Komik entspinnt er die süße Pein dieser amourösen Nachblüte: hier der nicht uneitle Schriftsteller, mit katholisch barocker Prunkrhetorik offensiv balzend, Süßholz raspelnd und drechselnd, eine Brachialmimose, fast noch mehr betört vom eigenen Hormonsturm als von der Adressatin, die diesen in ihm entfacht, und die verbotene Frucht der Verstohlenheit sichtlich genießend.

Immer neue Koseworte, und was für welche

Dort die zunächst spröde evangelische Theologin, eine Art ins Idealische entrückte Margot Käßmann, halb geschmeichelt, halb spöttisch den Stürmer und Dränger an ihrem Herzen zappeln lassend. Sogleich entlarvt sie seine Doktrin, die wahre Liebe zeige sich erst, wenn das körperliche Begehren nachlasse, als kokette Unterwerfungsgeste eines eifersüchtig Entflammten, der doch keinen Zweifel daran lässt, dass er noch weit entfernt ist von der Geschlechtsverrentung. Wo er tändelt und sülzt, ist sie klar und bestimmt, nimmt der Anbahnung alles Frivole, indem sie das, was den beiden widerfährt, ins Metaphysische hochschraubt.

Bei aller kühlen Distanz zeigt sie sich viel entschiedener in ihren Gefühlen als der egomanisch verschmierte, gefühlsschlampig flatterhafte, romantische Liebesnarr. Sie erkennt ihren Amour fou als schicksalhaft - "wir sind die Extreme, die einander berühren" -, weiß das, was sie verbindet, jenseits von Betrug und Verrat, jenseits auch des schnöden Gegensatzes von Wahrheit und Lüge. Diesem stellt sie die Tiefe der alle Dichotomien aufhebenden Aletheia, der Unverborgenheit entgegen, "das allumfassend Weibliche als das welterhaltende Sowohl-als-auch".

Auf jüngere Leser mag das befremdlich wirken

So antiquiert dieses mystifizierende Frauenbild auch wirken mag, der Gültigkeit dieser ergreifenden Liebesgeschichte tut das genauso wenig Abbruch, wie der zunächst forciert anmutende philosophische Überbau die Wahrheit der Gefühle zu schmälern vermag. Für jüngere, an die Explizitheit von Chatroom und sozialen Medien gewöhnte Leser mag das, was diese Briefabenteurer da miteinander treiben, allerdings mindestens so befremdlich sein wie die Form, in der sie es tun: diese altmodisch-manierlichen Episteln aus dem Bildungshaushalt, in denen man einander in wohlgesetzten Worten erklärt, wie es um einen steht.

Dass das Wort "gnädige Frau" Schauer bisher nicht erlebter Wollust auslösen kann, ist uns kaum weniger fern, als dass sich zwei weiterhin noch lange siezen, die sich doch längst offenbart haben - und mit welch kunstvollen Wendungen und Windungen sie nacheinander schreien. Und dass die Einhaltung der Zwei-Wochen-Frist zwischen den Briefen als Vor- und Nachlust zum Liebesspiel gehört. Sie reden sich mit Titeln und mit Namen an, nennen sich Freund und Freundin, mal ist sie die Vertraute, die zu sehr Abwesende, mal er der Anempfinder oder gar der Vorwurfsfreudige und Verratssüchtige.

Stützen und aufrichten

Immer neue Koseworte finden sie füreinander, und was für welche: sie, die Teilhaftige, Maestra, Gelieferte, Kapitulierende, er, der Ausgelieferte, der Belletrist, der Übermütige, Erschienener, von ihr Lebender, ihr ganz und gar Gehörender, vor Gemeinsamkeit Vibrierender, von Aussichtslosigkeit Geblendeter. Nur ein einziges Mal jedoch: Liebster und Liebste. Allein dieser verspielte Benennungszauber ist der schönste Beweis dafür, dass Gefühl und Verstand eben kein Gegensatz sind, dass das dumpf Empfundene sich erst in Sprache gefasst zum klaren Gefühl läutert, dass Herzensbildung kein verschmockter Backfischbegriff des 19. Jahrhunderts ist, sondern der Name für eine Poetik der Emotionen.

Was als leichtes Parlando beginnt, mündet bald in eine Innigkeit, mit der man sich für die Gefühls- und Gedankenwelt des anderen öffnet - so macht Maja, die Göttliche, ihren Basil mit der existenzphilosophisch grundierten Theologie ihres Vorbildes Karl Barth vertraut. Und man erzählt einander ganz ungeschützt von den jeweiligen "Ehe-Gehegen". So ist Maja eben nicht nur in Basils Leben die starke Frau, sondern auch in dem ihres Mannes, den sie stützen und aufrichten muss. An diesem scheinbar so triumphalen Wissenschaftler und Unternehmer nagen Zweifel und Verunsicherung, und selbst noch die Demütigung, die ihm ein falscher Freund, ein Blender und "Ego-Midas", zufügt, betrachtet er als gerechten Lohn.

Extremurlaub zweier Alpha-Senioren

"Vernichtend tolerant", so Majas Befund. Und auch Basil, dieser windschief ins Leben gebaute Universalhypochonder, wäre nichts ohne seine Iris, die stille Dulderin an seiner Seite, deren heimliche epigrammatische Notate, die den Arbeitstitel "Das 13. Kapitel" tragen, er sich vampirisch aneignet und Maja zukommen lässt, als sehnte er sich geradezu nach einer stellvertretenden Bestrafung für seinen größeren Verrat. Durch diese Erzählungen kommt nicht nur viel Welt in die Herzensergießungen, sie vertiefen zugleich die Beziehung. Dass aber die Krise, ohne die auch diese Liebe keine große wäre, nicht aus einem tatsächlichen Vertrauensbruch erwächst, sondern aus einem Missverständnis, einer Nichtigkeit, darin zeigt sich die überragende Feinhörigkeit Martin Walsers für das kippelige Gleichgewicht im hochsensiblen Mikroklima der Gefühle.

Aber Walser begnügt sich nicht damit, ein präzises Seismogramm des Herzflimmerns aufzuzeichnen - und eine der bewegendsten Liebesgeschichten auf der Richter-Skala der Literatur, er geht noch einen Schritt weiter, indem er im zweiten Teil des Buches seinen Schriftsteller verstummen lässt, und zwar auf Majas Geheiß. Nachdem ihr Mann eine Krebsoperation überstanden hat, ist sie mit ihm nach Kanada gereist. Die "crazy germans" unternehmen eine mehrwöchige Fahrradtour im schweren Gelände am Klondike. Von unterwegs sendet Maja Berichte nach Berlin von ihrem iPhone, verbunden mit der Bitte, ihr nicht zu antworten. Also schweigt Basil, aber das heißt nicht, dass er nicht da wäre. Er ist es als Empfänger ihrer Nachrichten, als Zuhörer und stiller Zeuge.

Man liest ihre Berichte mit den besorgten, sehnenden Augen von Basil, der sich, von Phantomschmerzen getrieben, auf ziellosen Stadtwanderungen mit ihrem Geist im Café Einstein verabredet. Die immense Einfühlungskunst Martin Walsers vermag es, ihn als Abwesenden stets anwesend sein zu lassen. Maja und ihrem Mann Korbinian begegnen auf ihrer strapaziösen Tour immer wieder andere, denen die Liebe Wunden geschlagen hat, Besiegte und Verlorene.

Walser gelingt das Wunderwerk, mit der profanen Sprache des Biker-Lateins den Extremurlaub zweier Alpha-Senioren als Stationendrama zu erzählen, begleitet von Vorboten des Abschieds und Endes. Und wenn Korbinian sich einmal unmöglich aufführt in einem Restaurant, so legt Walser in diese Szene die ganze Tragödie eines Mannes hinein, der ein einziges Mal ungerecht sein darf, weil ihn ein ungleich größeres Unrecht erwartet. Und der natürlich insgeheim weiß, wie es um seine Maja steht, wie auch Iris weiß, dass Basil in Gedanken nicht bei ihr ist.

Apotheose auf das Paradoxon der Liebe

In seinem Essay "Über Rechtfertigung, eine Versuchung" hatte Walser in Auseinandersetzung mit seinen Hausgöttern Kafka und dem Schweizer Theologen Karl Barth seine negative Theologie entwickelt, sein credo quia absurdum est: Dass man an den unbekannten Gott nur ohne Hoffnung auf Hoffnung hin glauben könne. "Das dreizehnte Kapitel" liefert die Fortschreibung dazu, eine Apotheose auf das Paradoxon der Liebe, die immer größer ist als die Liebenden und deren Unerfüllbarkeit zu ihrem Wesen gehört, weil wir ohne Unerfüllbarkeit nicht sein können. "Umgeben von nichts als Möglichem erlischt das Leben selbst", so Basil.

Am Ende dieses unendlich tiefsinnigen Buches verbrennt Iris ihr 13. Kapitel. Es ist wie in Kafkas Türhüter-Parade. Die Notizen mit der Teufelszahl können vernichtet werden, denn sie waren nur dafür bestimmt, die Verbindung nicht abreißen zu lassen zu ihrem einzigen Leser. Dann ist der Bann gebrochen, und Basil fragt, ob Iris ihm den Titel ihrer Aufzeichnungen schenkt, und wenn er nicht eine Figur in einem Buch wäre, dann hätte er dieses furiose Buch gleichen Titels geschrieben, mit dem Martin Walser der Literatur über die Liebe eines ihrer schönsten, wahrsten und schmerzlichsten Kapitel geschenkt hat. Ein Meisterwerk der Schreib- und Empfindungskunst, ein Roman, der "ein Sachbuch der Seele" ist, wie Basil einmal sagt.

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