"Das Supertalent" auf RTL:Wenn eine Show entgleitet

Thomas Gottschalk beweist bei seinem ersten Auftritt in der RTL-Show "Das Supertalent" Schlagfertigkeit und Charme - im Wortgefecht mit Dieter Bohlen etwa oder beim Auftritt eines überforderten Neunjährigen. Doch dann folgt eine gänzlich unangebrachte Einlage. Michelle Hunziker, die dritte Jurorin der Castingshow, ist da schon mit Blaulicht abtransportiert worden.

Rupert Sommer

Krankenwagen-Türen schließen sich, mit grellem Blaulicht setzt sich das Fahrzeug in Bewegung. Innen im Fernsehstudio zeigt die Kamera entsetzte Gesichter. Und eine Stimme aus dem Off raunt marktschreierisch von einer "Katastrophe", die sich in der Show angeblich ereignet hat. Es ist ein Cliffhanger, wie aus dem Lehrbuch für reißerisches Trash-Fernsehen - und eine Geschmacklosigkeit.

'Das Supertalent' - Jury

Lief bei der RTL-Castingshow "Das Supertalent" Gefahr, an einem Spiel mitzuwirken, das er nicht steuern kann: Thomas Gottschalk (links) mit seinen Jury-Kollegen Michelle Hunziker und Dieter Bohlen.

(Foto: dpa)

Was genau während der Aufzeichnungen für "Das Supertalent" passiert ist, erfahren die Zuschauer an diesem Abend nicht mehr, selbst wenn sie die Auflösung vielleicht schon aus der Boulevard-Presse kennen. Dass Michelle Hunziker, die neben ihrem ehemaligen ZDF-Dienstherren Thomas Gottschalk neu verpflichtete RTL-Jurorin, bei einer Akrobatik-Einlage eines Kraftkerls ungeschickt herumgeschleudert wurde und mit einer schmerzhaften Prellung auf ihrem Hinterteil landete, wird nur mehr angedeutet, aber nicht mehr erklärt.

Diese Form von "Spannung", die ein zynischer Show-Regisseur ausgeheckt hat, muss bis zur nächsten Woche anhalten. Sie könnte tatsächlich dabei helfen, ein paar hartgesottene Zuschauer bei der Stange zu halten. Die Macher der Show, die sich zuvor durch das Blond-Gespann Hunziker-Gottschalk durchaus aufgehellt hatte, taten sich damit allerdings keinen Gefallen.

Gottschalk selbst wollte nach seinem ARD-Vorabendflop beweisen, dass auch auf RTL familientaugliche Unterhaltung mit Niveau möglich sein muss. Er lief allerdings Gefahr, an einem Spiel mitzuwirken, das er nicht steuern kann. Es geht um seinen Ruf. Und der war einst tadellos.

Schleichender Realitätsverlust

Beinahe tragisch wirkt sein schleichender Realitätsverlust in den Kulissen einer perfekt, aber eben kaltherzig inszenierten TV-Kulisse, weil sich der ehemalige "Wetten, dass ..?"-Moderator bis etwa zwanzig Minuten vor Schluss so erschütterungsfrei harmonisch in Dieter Bohlens Talente-Zirkus eingefügt hatte. Zuvor gaben Onkel Thommy und Onkel Dieter die freundlichen Entertainer-Profis, die mit einem dicklichen, übermotivierten Kind liebevoll, aber resolut umsprangen, gelegentlich ein wenig frotzelten, aber ansonsten die Macho-Handbremse angezogen hielten. Gottschalk fiel es nicht allzu schwer, einmal weniger quasseln zu dürfen als sonst. Wenn seine Schlagfertigkeit gefragt war, zeigte er meist den Charme, für den ihn ein Millionenpublikum liebt.

So tröstete er etwa den mit seinen neun Jahren etwas überforderten Nachwuchssänger Vito, der sich nach seiner unbeholfenen, aber rührenden Darbietung den weisen Rat einholte, lieber doch noch ein wenig älter zu werden, um dann in die Show zurückzukehren. Immerhin durfte Knuddelchen Vito auf Michelle Hunzikers Schoß - wenn er auch für die ehemalige "Wetten, dass ..?"-Assistentin, die schon oft ein großes Herz für Kinder bewiesen hatte, nicht ganz leicht zu heben war. Gottschalk beobachtete die Szene, verkniff sich einen plumpen Gag Marke Bohlen und spielte dagegen seine Schwiegermutters-Liebling-Geschmeidigkeit aus. "Du bist einen großen Schritt weiter", munterte er Vito augenzwinkernd auf. "Ich wollte immer schon mal auf dem Schoß von Michelle sitzen."

Und auch seinem Gastgeber Bohlen, der Gottschalk eine Art Show-Vorruhestand ermöglicht hatte, bot er genau dann Paroli, wenn die Sendung in allzu behäbige, friedliche Samstagabend-Routine abzugleiten schien - etwa mit putzigen, singenden Papageien. Das erhoffte Feuer zwischen den beiden Sprücheklopfern mit den Super-Egos flackerte genau dann auf, als Gottschalk seine verbleibende Trumpfkarte eines öffentlich-rechtlich sozialisierten Anstandswärters ausspielen konnte.

Es war bezeichnenderweise der Auftritt eines "Handfurz"-Künstlers, der Anlass für eines der witzigeren Wortgefechte lieferte. Dem US-Amerikaner Bruce Gaston gelang es, mittels geschickt eingeübter Bewegungen, zwischen seinen Handflächen Luftdruck zu erzeugen, dessen Modulationen tatsächlich wie der alte Modern-Talking-Hit "Cheri, Cheri Lady" von Dieter Bohlen klangen. Dass seine Uralt-Komposition für einen Flatulenz-Gag herhalten musste, gefiel Bohlen natürlich zunächst gar nicht. Gottschalk erkannte die Chance, einen Stich zu platzieren und erklärte dem Publikum frech, warum sich der Künstler für die pikant-zweideutigen Geräusche entschieden hatte - eben "weil er das Lied nicht singen will". Bohlen nahm's gelassen und überschlug vermutlich innerlich die zusätzlichen Gema-Einnahmen, die ihm die originelle Einlage einbrachte.

"Mehr möchte ich davon nicht sehen"

Das merkantile Funkeln in seinen Augen wurde noch deutlicher, als mit dem jungen, kantigen Pianisten Jean-Michel Aweh dann tatsächlich noch das einzig echte potenzielle Mehrwert-Talent des Abends "entdeckt" wurde. Der 28-jährige sang sich mit viel Gefühl durch zwei Songs von "Revolverheld" und von Philipp Poisel - und empfahl sich per neu eingeführter Direktbeförderung unmittelbar fürs Halbfinale. Dass Bohlen mit ihm noch viel vorhat, war dem RTL-Selbstvermarktungsexperten bereits anzusehen.

Das Publikum reagierte auf alle Darbietungen so überparteilich geschlossen, wie sich auch die Jury in allen Entscheidungen des Abends einig war. Nur dass den Klatschgästen auf den Rängen ein wenig mehr Sportlichkeit abverlangt wurde. Jeder Beifall geht in der rigiden "Supertalent"-Inszenierung stets in Standing Ovations über.

Doch dann zerstörte das wirklich dicke Ende alles: Man musste sich nur noch einmal vor Augen führen, warum Thomas Gottschalk nun tatsächlich seine Leoparden-Shirts bei RTL aufträgt. Es war der Moment, in dem der ZDF-Klassiker "Wetten, dass ..?" für immer seine Unschuld verloren hatte - durch den Unfall des Wettkandidaten Samuel Koch. Der wollte in der Live-Sendung vor laufenden Kameras und einem entsetzen Publikum über ein entgegenkommendes Auto springen, stürzte bekanntlich schwer und sitzt seitdem im Rollstuhl.

Gottschalk versicherte damals glaubhaft, wie tief auch sein Schock saß - und dass er danach nie wieder einfach so weitermoderieren könne und wolle. Der schlimmste anzunehmende Zwischenfall der deutschen Fernsehgeschichte liegt noch nicht ganz zwei Jahre zurück - schon findet sich Gottschalk in einer Sendung wieder, die er eigentlich nicht zulassen wollte - und dürfte.

"Von jugendlichem Leichtsinn kann man ja nicht sprechen", quälte er sich nämlich um etwa 22 Uhr, als ihm die Sendung komplett entglitt, noch einen unpassenden Scherz ab. Dann gab er zusammen mit Dieter Bohlen die Bühne frei für eine Nervenkitzel-Einlage, die an Unangebrachtheit nicht zu überbieten war: Helmut Wirtz, ein wohlgemerkt 87-jähriger Extremsport-Fanatiker, stürzte sich an einem Bungee-Seil 80 Meter in die Tiefe. Und dieses wurde von Franz Müllner, einem österreichischen Kraftkerl, mit bloßen Händen gehalten. Es war der 105. Sprung des Dortmunder Rentners - und er ging zum Glück gut aus. Nur Gottschalk, der mit der irrsinnigen Wette seine Glaubwürdigkeit riskierte, wollte man wirklich zustimmen, als er sagte: "Mehr möchte ich davon nicht sehen."

Zu diesem Zeitpunkt saß Michelle Hunziker in der von der Regie wild zusammengeschnittenen Sendung gar nicht mehr neben ihren Männerkollegen auf der Jury-Bank. Sie war schon mit dem Krankenwagen zur Untersuchung abtransportiert worden. RTL zeigte nur noch die Lichter des Rettungswagens - und verwies auf mehr Nervenkitzel mit Messerschluckern, Schlagbohrer-Akrobaten, Feuerkünstlern sowie einer in den Ankündigungstrailern erfreulicherweise bereits wieder putzmunteren Co-Jurorin. Nur sehen möchte man das dann alles wirklich nicht mehr. Selten wirkte Blaulicht schockierender.

Obwohl das Gespann Bohlen-Gottschalk-Hunziker im Vorfeld mit Spannung erwartet worden war und in der Gunst der Zuschauer am Samstagabend an erster Stelle lag, startete die neue Runde des "Supertalents" mit einer schwächeren Quote als die vergangene Staffel. Durchschnittlich 6,34 Millionen Zuschauer schalteten ein. Das entsprach einem Marktanteil von 22 Prozent. Die erste Folge der fünften Staffel hatte im September 2011 im Schnitt 7,37 Millionen Zuschauer erreicht (25,3 Prozent).

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