Konflikt Syrien-Türkei:Eskalation zwischen einstigen Männerfreunden

Nach den Gefechten im Grenzgebiet und Toten auf beiden Seiten verabschiedet das türkische Parlament ein Gesetz, das eine Militärintervention ermöglicht: Die Angst vor einem Krieg zwischen Syrien und der Türkei wächst. Wie die Situation eskalieren konnte, wie die Regierung in Ankara vom syrischen Machthaber Assad abrückte und warum der Konflikt auch mit der türkischen Innenpolitik zu tun hat.

Thomas Kirchner

Konflikt Syrien-Türkei: Als das Verhältnis noch besser war: Der türkische Premierminister Erdogan (links) und Syriens Präsident Assad bei einer Pressekonferenz im Oktober 2010.

Als das Verhältnis noch besser war: Der türkische Premierminister Erdogan (links) und Syriens Präsident Assad bei einer Pressekonferenz im Oktober 2010.

(Foto: AFP)

Die Lage im türkisch-syrischen Grenzgebiet ist angespannt: Seit am Mittwochnachmittag eine Granate aus Syrien fünf Menschen im Grenzort Akçakale tötete, droht die Situation zu eskalieren. Ankara hat seinerseits zurückgeschlagen und die Nato zu Hilfe gerufen. Ein mögliches Kriegsszenario bereitet nicht nur der internationalen Gemeinschaft Sorgen - auch in der Türkei wächst die Unruhe. Wie die BBC meldet, hat sich Syrien mittlerweile für den Tod der fünf Zivilisten entschuldigt. Unter dem Twitter-Hashtag #savaşahayır ("kein Krieg") laufen bereits seit Mittwochabend minütlich mehrere Dutzend Nachrichten ein.

Wie sich die Situation verschärfte, welches Verhältnis Syrien und die Türkei haben und wie die Nato reagiert: Die wichtigsten Fragen und Antworten im Überblick.

Was genau ist passiert?

Eine von mindestens drei Granaten aus Syrien schlug am Mittwochnachmittag in einem Haus im türkischen Grenzort Akçakale ein. Nach türkischen Angaben starben fünf Menschen, unter ihnen eine Mutter und ihre drei Kinder. Wer die Granate aus welchem Grund abfeuerte, ist nicht bekannt, türkische Sicherheitskreise vermuten aber, dass es syrische Regierungstruppen waren.

Die Türkei schlug zurück - noch am Mittwochabend und erneut am Donnerstagmorgen beschoss sie Ziele in Syrien. Dabei kamen offenbar mehrere syrische Soldaten ums Leben. Und Ankara geht noch weiter: Das türkische Parlament verabschiedete am Donnerstag auf einer außerordentlichen Sitzung einen Gesetzentwurf, der eine Intervention in Syrien möglich machen soll.

Der Text soll in ein bereits bestehendes Gesetz aufgenommen werden, das "Operationen außerhalb der türkischen Grenzen" erlaubt. Ein solches Gesetz autorisiert beispielsweise Militäraktionen der türkischen Armee im Nordirak bei der Jagd auf kurdische Extremisten. Außerdem hat die Türkei die Nato alarmiert und den UN-Sicherheitsrat eingeschaltet. Allerdings betont Ankara, dass es keinen Krieg mit Syrien wolle.

Warum reagiert die Türkei so heftig?

Der Granatenbeschuss ist nicht der erste, aber der bisher gravierendste Grenzvorfall zwischen den beiden Ländern seit Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien. Im April feuerten syrische Kräfte auf ein Flüchtlingslager auf türkischem Gebiet, zwei Flüchtlinge starben. Im Juni schoss die syrische Armee einen türkischen Kampfjet ab, der kurzzeitig in den syrischen Luftraum geflogen war; die beiden Piloten kamen ums Leben. Danach verkündete der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, sein Land werde auf solche Grenzverletzungen künftig härter reagieren.

Seither ist die türkische Armee in erhöhter Alarmbereitschaft. In den vergangenen Tagen sind die Kämpfe nahe der Grenze immer heftiger geworden. Allein auf Akçakale flogen im Oktober bislang bereits sechs Granaten, die Schulen in der Region mussten geschlossen werden, die Menschen dort leben in Angst vor den nächsten Treffern.

Welche Beziehungen hat die Türkei zu Syrien?

Die Beziehungen zwischen den beiden Staaten waren gut - bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs. Zwischen Erdogan und dem syrischen Staatschef Baschar al-Assad war über die Jahre sogar eine Art Männerfreundschaft entstanden. Nach Jahrzehnten der Zurückhaltung sieht sich die wirtschaftlich immer stärker werdende Türkei inzwischen als wichtige vermittelnde Kraft im Nahen Osten, sie erhebt einen Führungsanspruch. Die neue Devise lautet: "Null Probleme mit allen Nachbarn." Ankara lag deshalb sehr an einem stabilen Verhältnis zu Damaskus.

Erdogan musste aber schnell einsehen, dass sich ein Szenario wie in Libyen oder Ägypten in Syrien nicht wiederholen und dass Assad alle Demokratisierungsversuche abblocken würde. Seither ist der türkische Premier zum schärfsten internationalen Widersacher Assads geworden, sein Land engagiert sich wie kein anderes in dem Konflikt. Erdogan holte den Syrischen Nationalrat, die wichtigste Oppositionsplattform, nach Istanbul; er gab der Freien Syrischen Armee ein Rückzugsgebiet. Auch nahm die Türkei bisher fast 100.000 Flüchtlinge auf.

Warum auch die Kurdenfrage eine Rolle spielt

Welches Szenario befürchtet Erdogan?

Der syrische Bürgerkrieg stellt für die Türkei in mehrerer Hinsicht eine Bedrohung dar. Innenpolitisch gerät Erdogan unter Druck: Seine Syrien- und seine gesamte Außenpolitik steht vor dem Scheitern. Das hat auch mit der Kurdenfrage zu tun, dem Dauerthema der türkischen Politik. Die Kurden profitieren von dem Konflikt in Syrien: Entlang der Grenze kontrolliert eine syrische Schwesterorganisation der türkischen PKK ein Streifen von etwa hundert Kilometern Länge.

Ankara befürchtet deshalb, wie im Irak könnte nun auch in Syrien ein selbstverwaltetes kurdisches Gebiet entstehen. Vom Assad-Regime werden die kurdischen Rebellen mit Waffen versorgt. In der Türkei selbst eskaliert der Kurdenkonflikt gerade wieder, Ankara kehrt nach Versuchen der Entspannung zurück zum Mittel der militärischen Gewalt. Der vergangene Sommer war der blutigste seit 20 Jahren mit mehreren Hundert Todesopfern.

Der Albtraum türkischer Politiker: In einem zerfallenden Syrien entsteht eine quasiautonome kurdische Region, die sich mit dem kurdischen Nordirak zusammenschließt. Dann wäre ein Kurdistan, eine kurdische Konföderation einschließlich des Südostens der Türkei nicht mehr weit. Daneben sorgen sich türkische Politiker, dass der konfessionelle Konflikt in ihr Land übergreift. Die syrischen Rebellen sind meist Sunniten; dass sie von Erdogan unterstützt werden, missfällt den Aleviten in der Türkei (Die Glaubensrichtung der Aleviten in der Türkei, die sich aus dem schiitischen Islam entwickelt hat, ist nicht gleichzusetzen mit der schiitischen Gemeinschaft der Alawiten - auch Nusairier genannt - in Syrien, der Assads Familienclan angehört.)

Was fordert Ankara von der internationalen Gemeinschaft?

Ein sehr viel stärkeres Engagement. Erdogan drängt vehement darauf, an der Grenze von den UN garantierte Fluchtkorridore zum Schutz der syrischen Zivilbevölkerung einzurichten. Russland, einer von Assads letzten Verbündeten, sperrt sich dagegen, aber auch die USA: Ihrer Ansicht nach müsste dafür eine Flugverbotszone eingerichtet werden. Sie wäre gegen Assads Luftverteidigung kaum durchzusetzen, ohne massiv in den Konflikt einzugreifen. Daran hat Washington allerdings kein Interesse.

Wie wahrscheinlich ist ein Eingreifen der Nato?

Kaum jemand rechnet damit, dass die Nato in Syrien wirklich militärisch eingreift. Das Nato-Mitglied Türkei rief die Allianz noch am Mittwoch zusammen, auf der Grundlage von Artikel 4 des Nato-Vertrages. Danach kann jeder Bündnis-Staat Beratungen verlangen, wenn er seine territoriale Integrität, seine politische Unabhängigkeit oder Sicherheit bedroht sieht. Zuletzt war es zu solchen Beratungen bei dem Abschuss des Kampfjets im Juni gekommen.

Der Nato-Rat verurteilte die Grenzverletzungen durch Syrien zwar als "aggressive Handlungen" und kündigte die Unterstützung des Mitglieds Türkei an. Die Bereitschaft zu einer Intervention wie in Libyen ist unter den maßgeblichen Nato-Staaten allerdings weiterhin gering. US-Außenministerin Hillary Clinton hat den Angriff scharf verurteilt, sieht aber keinen Anlass, den "Bündnisfall" nach Artikel 5 des Nato-Vertrags auszurufen.

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