EU-Gipfel:Achse des Misstrauens

Deutsch-französische Einigkeit, das war einmal. Kanzlerin Merkel und Frankreichs Präsident Hollande zeigen sich auf dem EU-Gipfel in Brüssel ungewöhnlich aggressiv. Wenn die beiden nicht zueinander finden, droht der EU eine Spaltung zwischen Nord und Süd.

Cerstin Gammelin und Javier Cáceres, Brüssel

Die Spanier kommen zu Fuß, die französische Delegation fährt in einer Kolonne deutscher Wagen (Audi, BMW, Volkswagen, Mercedes) vor, Bundeskanzlerin Angela Merkel verspätet sich. Als am späten Donnerstagnachmittag im Brüsseler Ratsgebäude die Delegationen aus 27 europäischen Ländern ankommen, breitet sich erneut jene unwirkliche Stimmung aus, die schon auf dem letzten Gipfel Ende Juni zu spüren war. Traditionen geraten aus den Fugen. Bisher Undenkbares passiert plötzlich. In Kaffeebars, auf Fluren machen Diplomaten die Ursache aus: Die deutsch-französische Balance ist verlorengegangen. Trotz Friedensnobelpreis.

Die deutsche Kanzlerin und der französische Staatspräsident schreiben keinen gemeinsamen Brief mehr vor einem Gipfel, in dem sie ihren Kollegen erklären, was sie auf dem Treffen zu beschließen gedenken. Darüber haben sich die anderen zwar oft beschwert, Orientierung gaben diese Schreiben dennoch. Plötzlich ist es so, dass die Christdemokratin Angela Merkel und der Sozialist François Hollande vor einem Gipfel ihre Unterschiede herausarbeiten. Sie werfen beide Forderungen ins Rennen, die für die andere Seite nicht zu verdauen sind.

So gesehen, hat dieser Gipfel schon am Montag begonnen. François Hollande gab in Paris ein Interview, das am Gipfeltag veröffentlicht werden sollte. Darin fordert er in beinahe aggressiver Manier, die Euro-Staaten sollten ihre nationalen Schulden wenigstens teilweise auf alle Schultern verteilen - und Euro-Bonds, also gemeinsame Schuldscheine, ausgeben. Hollande weiß, dass Euro-Bonds für Merkel des Teufels sind. Aber er riskiert den Konflikt, weil er ihn innenpolitisch stärker macht und weil er Länder wie Italien und Spanien hinter sich versammeln kann. Das lasse ihn wie einen "mediterranen Champion" aussehen, sagt ein EU-Diplomat.

Hollande provoziert, Schäuble legt nach

Bei seiner Ankunft in Brüssel treibt Hollande den Konflikt gewissermaßen auf die Spitze. Der wartenden Presse erklärt er, Merkel sei so zögerlich bei der Umsetzung so mancher Beschlüsse, weil sie ja demnächst eine Wahl zu gewinnen habe. Es sind diese ungewohnt deutlichen Worte, die Diplomaten Sorgenfalten auf die Stirn treiben. Ein Reporter des japanischen Fernsehens hört Hollande zu - und lächelt leise. "Merkel wird dennoch gewinnen", sagt er. Warum? Der Japaner zögert. Er sei von einem sehr seriösen Sender, sagt er dann. Dort vertraue man eben Deutschland.

Es ist Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, der vor dem Gipfel für eine Art politischen Gleichstand sorgt. Etwa zu gleichen Stunde, in der Hollande im Interview Euro-Bonds fordert, attackiert Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble den Franzosen. Während eines Rückflugs aus Asien zieht Schäuble vor müden Journalisten - so wie ein Zauberer ein Kaninchen - eine diplomatisch unanständige Forderung aus dem Hut. Die nationalen Hauptstädte sollten Kompetenzen nach Europa abgeben, einen mächtigen Wirtschaftskommissar einsetzen, der sogar über ein Vetorecht gegen nationale Haushaltspläne verfüge. Der Gipfel solle die dazu nötigen Vertragsänderungen vorbereiten. Es sind Forderungen, die für Paris völlig indiskutabel sind. Und so stehen vor dem Gipfel Euro-Bonds gegen Wirtschaftskommissar. Man könnte auch sagen, die Länder des Südens sind gegen die des Nordens angetreten.

"Wir sind unterschiedliche Menschen, das ist erkennbar."

Als Merkel am späten Donnerstagnachmittag in Brüssel ankommt, trifft sie zuerst Hollande. Unter vier Augen. Beide kommen danach in den Saal, in dem ihre Kollegen schon plaudern. Sie versuchen zu lächeln. Es sieht gezwungen aus. "Wir sind unterschiedliche Menschen", sagt Merkel später über Hollande. "Das ist erkennbar." Trotzdem finde man Wege der Zusammenarbeit. "Und wir haben sogar eine Lösung für Sachfragen gefunden", freut sie sich. Immerhin.

Zur Freude hat Merkel am Freitagmittag, als der Gipfel vorbei ist, allen Grund - anders als im Juni, als sie plötzlich nicht mehr verhindern konnte, dass eine Bankenaufsicht nebst direktem Zugriff auf Rettungsgelder beschlossen wurde. Damals freuten sich vor allem Rom, Paris und Madrid, und Merkel musste in Berlin viele kritische Fragen beantworten. Diesmal aber verließ die Kanzlerin den Gipfel als Siegerin.

Dabei zeigt sich, dass die großen Debatten um Euro-Bonds oder den Superkommissar nichts als von Zauberlehrlingen ausgetragene Schaukämpfe waren. Das wahre Wunder gelingt Merkel ganz woanders. Sie erkämpft sich die Hoheit zurück, darüber entscheiden zu können, ab wann Banken direkt auf Kredite aus dem Euro-Rettungsfonds ESM zugreifen können. Die Chancen stehen gut, dass sie vermeiden kann, vor der Bundestagswahl noch einmal den Bundestag um Geld zu bitten. Der Wähler dürfte es ihr danken. Zehn Stunden investierte sie dafür. In der Zeit laufen auf großen Bildschirmen im Pressesaal Schwarz-Weiß-Filme. Die EU 1964, 1972. Zu sehen sind Männer, die vor die Presse treten - und gemeinsam erklären, was sie ausbaldowert haben.

Müde und genervt gehen die Regierungschefs auseinander

Von gemeinsamen Erklärungen kann 2012 keine Rede mehr sein. Es geht auf drei Uhr morgens zu, als die Staats- und Regierungschefs auseinander gehen. Der geschäftsführende Präsident des Rats, der Zyprer Dimitris Christofias, lehnt genervt und müde an einer roten Theke, bis ihm ein Höfling signalisiert, dass seine Limousine vorgefahren sei - ebenfalls ein deutsches Fabrikat. Nach und nach tröpfeln seine Kollegen hinterher: der Portugiese Pedro Passos Coelho, der völlig erledigt aussieht und ohne ein Wort verschwindet; Luxemburgs Premier Jean Claude Juncker, der zum Abschied noch ein paar Worte verliert.

Dann bildet sich ein Stau aus übermüdeten Höflingen, Sicherheitsleuten, Mitarbeitern, Staats- und Regierungschefs. Mittendrin: Zentralbankchef Mario Draghi, der bei keiner Frage, die ihm von den Presseleuten auf Englisch, Italienisch oder Französisch serviert wird, auch nur ein Grübchen verzieht, er wirkt ausdrucksloser als seine eigene Wachspuppe. Schließlich kommen die Männer, die im Juni noch durch die Gänge des Lipsius-Gebäudes mehr getanzt als gelaufen waren, damals standen sie kurz davor, die Arme hochzureißen wie Boxer, die sich für Sieger halten: Mario Monti, der italienische Ministerpräsident. Und Mariano Rajoy, der Regierungschef Spaniens.

Diesmal gehen sie, ohne viel zu sagen. Ob die Märkte jetzt enttäuscht sein werden, wird Monti noch gefragt. "Ich glaube nicht. Sie wissen, dass es keine sofortige Umsetzbarkeit geben konnte", sagt der Italiener - und entschwindet in die Nacht. Ähnlich bürokratisch hört sich Rajoy an. "Schaunmermal", setzt er an, "das Wichtige ist doch, dass ein Fortschritt erzielt worden ist." Was genau der Fortschritt sei? Keine Antwort.

40 Milliarden Münzgeld

Den ganzen Tag über hatten spanische Diplomaten versucht, zu leugnen, dass über Spaniens Finanzen geredet werde. Spanien war kein Thema, ist kein Thema, wird kein Thema. Steht nicht auf der Tagesordnung. Und überhaupt: Mittlerweile sei längst umrissen, wie viel Geld Spanien für seine Banken brauche - 40 Milliarden Euro. Natürlich wäre es besser, die jetzt nicht auf die Staatsschulden draufzuschlagen, sagen sie. "Wir brauchen das Geld nicht dringend." Und wenn sie dann sagen, dass diese 40 Milliarden doch nur vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts wären, dann klingt das so, als würden sie von Münzgeld sprechen. Von calderilla.

Während sich Rajoy am Ausgang um ein paar Worte müht, geben in der zweiten Etage Merkel und Hollande getrennte Pressekonferenzen. Beide hören sich wie Sieger an. Absurd ist nur: Über die vor dem Gipfel laut geforderten Euro-Bonds oder den Super-Kommissar mit Vetorecht haben sie gar nicht geredet. Auch der von Merkel im Bundestag vorgeschlagene Solidaritätsfonds wurde vertagt. "Alles Nebelkerzen", sagt ein Diplomat. Gestritten wurde über den Zeitplan, in dem die Aufsicht über die Banken der Euro-Zone eingerichtet werden soll - und damit der direkte Zugriff auf die Kredite des ESM. Und genau das bleibt vage. "Richtig so", freut sich ein belgischer Taxifahrer, der die Menschen um 4 Uhr morgens nach Hause fährt. Und gut, dass sich die Deutsche durchgesetzt habe. Denn: "Warum sollte ich für spanische Banken zahlen?"

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