Schließung des Autowerks in Belgien:Ford geht, das Land leidet

Es ist ein Drama für Belgien: Ford schließt sein Werk in Genk. Tausende Jobs gehen dadurch verloren, in das Bruttoinlandsprodukt reißt die Schließung ein spürbares Loch. Die Belgier sehen dafür gleich mehrere Schuldige - unter anderem die Deutschen.

Silke Bigalke, Genk

Protest in front of Ford Belgian factory

Proteste gegen die Werksschließung in Belgien: Ein brennender Ford S-Max vor dem Werk in Genk.

(Foto: dpa)

Das Auto brennt seit dem Vorabend. Genau genommen ist es nur eine Karosserie, frisch vom Fließband. Mehrere Hundert Arbeiter belagern seit Tagen das Ford-Werk im belgischen Genk. Die Sicherheitsleute haben wegschaut, als sie den halb fertigen Ford Mondeo am Mittwochabend vor das Werkstor schleppten und anzündeten. Schließlich sind die Jobs an der Pforte auch weg, wenn das Werk 2014 geschlossen wird.

Am Mittwoch verkündete Ford die Schließung der Produktion in Genk bis 2014. Und jetzt, einen Tag danach, stehen sie immer noch da und werfen Holz in den brennenden Mondeo-Kadaver. "Das ist besser als zu Hause die Wand anzustarren", sagt Tasso Anastasios, der seit 25 Jahren bei Ford arbeitet. Er ist für alles Elektrische an den Produktionsanlagen verantwortlich. "Wir verlieren nicht nur unseren Job, sondern unsere Freunde, unser Umfeld", sagt er. Drei Gewerkschaften haben Zelte für die Mitarbeiter aufgestellt, rote, grüne und blaue. Doch die meisten Grüppchen stehen draußen, lassen sich nassregen. Geredet wird kaum, es herrscht Schockstarre.

"Für Genk ist das ein Drama", sagt Ronny Champagne von der sozialistischen Gewerkschaft ABVV, der roten. "Die Zukunft von Tausenden Familien ist weg." Im Werk arbeiten 4300 Menschen, außerdem hängen mehr als 5000 Jobs bei Zulieferern aus der Region an Ford. Oft arbeiteten ganze Familie für das Unternehmen, Ehepaare, Väter mit ihren Söhnen, sagt Champagne.

Jeder zweite Industriejob im 65.000 Einwohner großen Genk hängt von Ford ab. Für ganz Belgien ist die Schließung ein Tiefschlag. Die belgische Automobilindustrie, die für das kleine Land so wichtig ist, schrumpft: Erst ging Renault 1997 aus Vilvoorde weg, dann Opel 2010 aus Antwerpen, jetzt Ford aus Genk. Bleiben noch Audi in Brüssel und Volvo in Gent. Und eine sonst eher mittelständisch geprägte Metall verarbeitende Industrie. Stahl- und Eisen haben das Land während der Industrialisierung groß gemacht. Das ist lange her: Heute wird in Belgien zwei Drittel der Wertschöpfung mit Dienstleistungen gemacht.

Minus 0,3 Prozent beim Bruttoinlandsprodukt

Wie wichtig die Autoindustrie für Belgien trotzdem noch ist, zeigen Zahlen des belgischen Industrieverbands Agoria: Autos machen zehn Prozent des belgischen Exports aus. Das Werk in Genk trug 15 Prozent der Wertschöpfung durch die belgische Autoindustrie bei. Und die Schließung kostet Belgien laut Agoria 0,3 Prozentpunkte des Bruttoinlandproduktes.

In Genk blockieren die Gewerkschaften die Eingänge des Fordwerks. Hinter dem Haupttor haben sie eine Barriere aus Neuwagen aufgereiht. Alle drei Modelle aus dem Werk sind vertreten, der Mondeo, der Galaxy und der Sportvan S-Max. Die Mitarbeiter hatten gehofft, dass der Konzern auch die neuen Generationen hier produziert.

Vor fünf Wochen noch sei ihm das noch mal versichert worden, sagt Gewerkschafter Champagne, da war er zu Besuch im Kölner Werk, Fords Europa-Zentrale. Nur wegen dieses Versprechens hätten sich die Mitarbeiter 2010 auf eine Lohnkürzung von zwölf Prozent eingelassen. "Ford hat mir ein Messer in den Rücken gestoßen", sagt Champagne. Jetzt soll Ford bezahlen, und zwar großzügige Abfindungen und Frühverrentung für die über 50-Jährigen. Solange wollen sie die Tore blockieren, und weder fertige Neuwagen noch Zulieferungen für andere Werke freigeben.

"Es ist eine Katastrophe"

Dass etwas nicht stimmt, ahnten alle, als für Mittwoch eine Gewerkschaftsversammlung angesetzt wurde. Elektriker Anastasios rührt seinen Kaffee, viel Zucker, viel Milch. Er hat Mittwoch vor der Tür gewartet, es war voll im Saal. Dann kam eine Kollegin raus: "An ihrem Gesicht habe ich gesehen, dass es vorbei ist." Die Nachricht habe der Ford-Europachef Stephen Odell schriftlich mitgeteilt. "Er hatte nicht den Mumm, selbst zu kommen." Deswegen hängt Odells Bild am grünen Zelt. Darunter steht auf flämisch "Feigling".

Auch auf die Deutschen sind sie Genk nicht gut zu sprechen. Ihr Werk muss schließen, damit die in Köln und in Saarlouis erhalten bleiben, davon sind alle überzeugt. Die mächtige IG-Metall habe einen Deal mit Odell, sagt Champagne. "Deutschland ist eben größer als wir und hat mehr Kunden." Und Deutschland habe eine große Gewerkschaft, nicht drei. Der Industrieverband Agoria sieht noch andere Gründe, warum es offenbar immer Belgien trifft, hohe Energie- und Lohnkosten zum Beispiel.

Für Wim Dries sind das alles keine Gründe. Schuld seien die belgischen Gesetze, die es den Firmen leicht machten, Werke in Belgien zu schließen, sagt der Bürgermeister von Genk. Während er erzählt, gähnt er immer wieder. Die letzten Tage waren anstrengend. Er hat zwanzig Minuten zum Reden, minus drei Anrufe, die zwischendurch reinkommen - einmal ist sogar der flämische Sozialminister dran.

Vom größten Werk zur Entlassungswelle

Um das Gähnen zu stoppen holt Dries eine Cola aus dem Kühlschrank, der sich in seinem riesigen modernen Büro hinter einen Schiebetür versteckt. Alles ist in weiß gehalten, eine Ecke des Schreibtisches ist kunstvoll angeleuchtet. Ein Kontrast zum Ausblick auf die grauen Wohnburgen vor dem Fenster. Genk, der drittgrößte Industriestandort der Region Flandern nach Gent und Antwerpen, ist mit dem Kohleabbau groß geworden. Als Mitte der 60er Jahre die erste Zeche schloss, kam fast zeitgleich Ford. Zwischendurch war das Werk mit 14.000 Arbeitsplätzen das größte in Europa, erzählt Dries.

Die letzte große Entlassungswelle war 2003, damals mussten 3000 Mitarbeiter gehen. Und jetzt? "Es ist eine Katastrophe", sagt Dries. Er bereitet mit der flämischen Regierung einen Sozialplan vor. "Es muss ein gewaltiger Sozialplan werden", sagt er. "Ford muss dafür sorgen, dass Genk das überlebt."

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