VfB Stuttgart: Jens Lehmann:Auf Irrflug - der Planet Lehmann

Weltklasse-Torwart und Frustfouler, lieber Familienvater und Wildpinkler: Eine Woche zeigt die Extreme des Jens Lehmann.

T. Hummel und J. Aumüller

In den neunziger Jahren hat Jens Lehmann ein paar Semester Volkswirtschaft studiert. Er ist ein fürsorglicher Familienvater, der schon mal ein gutes Angebot ausschlägt, weil er seinen Kinder nicht schon wieder einen Schulwechsel zumuten will. Jens Lehmann war einmal zu Gast bei ZDF-Moderatorin Maybrit Illner - und diskutierte eloquent mit Ministerin Ursula von der Leyen über den Alkoholkonsum von Kindern und Jugendlichen.

VfB Stuttgart: Jens Lehmann: Letzter Abgang? Jens Lehmann macht sich derzeit wenig Freunde.

Letzter Abgang? Jens Lehmann macht sich derzeit wenig Freunde.

(Foto: Foto: dpa)

In diesen Tagen muss man solche Episoden aus dem Leben des 40-jährigen Jens Lehmann erzählen, um an einen Teil der Persönlichkeit dieses Mannes zu erinnern. Den anderen Teil stellt der in Essen geborene Torwart des VfB Stuttgart gerade zur Schau und lässt ihn durch die dankbare Medienwelt rauschen.

Man weiß nicht so genau, was dahintersteckt: Gedankenlosigkeit? Egozentrismus? Oder eine zu große Portion Jähzorn in Verbindung mit einem zwanghaften Gerechtigkeitssinn?

Die vergangene Woche lieferte alles, was diesen nicht fürsorglichen Lehmann ausmacht: Zuerst kritisierte er unter anderem den Klub-Vorstand mit messerscharfen Worten, der den Trainer Markus Babbel nur auf Druck "meist pubertärer" Fans entlassen habe. Im Champions-League-Spiel gegen Unirea Urziceni hüpfte er während der laufenden Partie über die Bande, leistete sich eine öffentliche "irre Pinkel-Pause" (Bild) und nahm dem furiosen Einstandssieg vom neuen Trainer Christian Gross die Schlagzeilen.

Danach weigerte er sich, die vom Vorstand verhängte Strafe wegen der Kritik von 40.000 Euro zu überweisen. Und zum Abschluss ließ er sich am Sonntag vom Mainzer Stürmer Aristide Bancé und den Zuschauern derart provozieren, dass er vollends die Kontrolle verlor. Nach einem üblen Foul Bancés gegen sein Knie musste sich der Torwart direkt vor der Mainzer Tribüne behandeln und beschimpfen lassen.

Der Schmerz im Knie und in der Seele brachte das Blut Lehmanns zum Kochen. Es drängte ihn, sich beim Widersacher zu revanchieren. Beim Stand von 1:0 stieg er dann kurz vor Schluss Bancé absichtlich auf den Fuß - Lehmann dachte wohl, dies würde niemand sehen. Schiedsrichter Wolfgang Stark aber zeigte dem Torwart die rote Karte und entschied auf Elfmeter für Mainz. Eugen Polanski verwandelte gegen den eingewechselten Ersatz-Torwart Sven Ulreich, das Spiel endete 1:1.

Jens Lehmann war der Bösewicht.

Nach der Partie sagte der 40-Jährige nichts. Er verließ wenige Minuten nach Spielende fluchtartig und wortlos das Stadion, geriet mit einem VfB-Anhänger aneinander, dem er die Brille vom Kopf riss und erst nach Aufforderung wieder zurückgab. Dann legte er sich mit einem Kameramann an, versuchte zunächst vergeblich ein Taxi zu bekommen, stieg in den Mannschaftsbus des VfB, um wieder auszusteigen und dann doch mit einem Taxi zum Flughafen Frankfurt zu fahren. Von dort flog er nach München.

Schwieriger Torwartmensch

Angeblich existiert zwischen Lehmann und Stuttgart eine Absprache, dass der Torhüter alleine zu seinem Wohnsitz am Starnberger See fahren darf. VfB-Mediendirektor Oliver Schraft sagte der Agentur SID, dass der Verein von der Abreise Lehmanns aus Mainz Kenntnis hatte und dies nichts Ungewöhnliches sei.

Die wichtigere Frage allerdings, ob es glücklich ist, nach einem solchen Auftritt auf dem Rasen anschließend fern der Mannschaft die Heimreise anzutreten, dürfte sich Lehmann nicht gestellt haben. Es verdeutlicht, dass der Ex-Nationalelf-Keeper im Grund kein Mannschaftssportler ist, sondern auf dem Platz bisweilen auf einem eigenen Planeten lebt.

Fast tragisch ist es, dass der Planet Lehmann nun als einziger großer Spaßverderber im neuen Stuttgarter Gross-Universum herumfliegt. Denn der neue Trainer aus der Schweiz kam mit Glatze, Magie und Selbstbewusstsein, dirigierte die Mannschaft ins Champions-League-Achtelfinale und zu einer ansehnlichen Leistung beim FSV Mainz.

Da sind Spieler wie Pawel Pogrebnjak oder Ciprian Marica, die nach frustrierenden Wochen und Monaten plötzlich aufblühen; da sind Mannschaft und Fans auf dem Weg, sich zu versöhnen. Da könnte sich das Stuttgarter Leben um so viele positive Meldungen drehen - doch stattdessen dreht sich alles um Jens Lehmann.

"Ich muss erst mal mit dem Jens darüber sprechen. Ich glaube nicht, dass das sein letztes Spiel war. Er wird jetzt eine Sperre bekommen, aber er hat Vertrag bis 30. Juni 2010", sagte Manager Horst Heldt. Und Trainer Gross meinte: "Die Szene mit Jens war unnötig. Ich kenne den Fußballer Lehmann recht gut, aber den Menschen Lehmann recht wenig. Ich werde mit ihm die Situation recht intensiv analysieren."

Der Torwartmensch Jens Lehmann ist allerdings schwer zu greifen. Er hat angekündigt, seine letzte Saison zu spielen, und er spielt eine gute letzte Saison. Schon mehrere Partien hat er seiner Mannschaft gerettet, auch gegen Mainz hielt er ordentlich, und es gibt einige Fußball-Beobachter, die ihn immer noch für den besten deutschen Torwart und die eigentliche Nummer eins für Südafrika halten. (Jens Lehmann selbst dürfte auch zu diesen Fußball-Beobachtern zählen.)

Doch da ist eben diese andere Seite: Da war zum Beispiel seine Flucht aus dem Stadion, als ihn sein damaliger Trainer Jörg Berger bei Schalke zur Halbzeit auswechselte und Lehmann mit der S-Bahn nach Hause fuhr. Zuletzt zog er seinem Mitspieler Khalid Bouhlarouz einmal das Stirnband über den Kopf, warf den verlorenen Schuh von Sejad Salihovic auf sein Tor, damit der Hoffenheimer für eine Weile barfuß weiterspielen musste. Da waren auch die Videobotschaft an die Mitgliederversammlung im Sommer, als er den Vorstand aufforderte, neue Spieler zu verpflichten oder der Oktoberfest-Besuch nach der Heimniederlage gegen Köln.

Jens Lehmann wird weiterhin seine Kinder vorbildlich erziehen. Er bringt genug Bildung mit, um sich in den kommenden Jahren in der Schnittstelle zwischen Fußball, Wirtschaft und Medien eine neue Aufgabe zu suchen. Sein nicht immer kontrollierbares Temperament könnte allerdings dazu führen, dass er es sich bis zum Karriereende noch mit dem Fußballbetrieb gehörig verscherzt - und in den Medien nicht mehr vermittelbar ist.

Im Video: Jens Lehmann wird handgreiflich. Auch nach dem Spiel sorgte Lehmann für einen Eklat. Er geriet mit einem Fan aneinander.

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