Zum Tode von Hans Werner Henze:Ein Geist half meiner Schwachheit auf

Er schuf, mit seinen Worten, ein "Theater mit neuer Musik, menschlichen Belangen, mit Aktualität, Vitalität und Zuversicht". Ein Moderner in den Traditionen, ein gewaltiges Œuvre in märchenhafter Freiheit: Hans Werner Henze, der Komponist, ist im Alter von 86 Jahren gestorben.

Wolfgang Schreiber

Hans Werner Henze

Hans Werner Henze, einer der bedeutendsten Komponisten der Gegenwart, ist tot. 

(Foto: dpa)

Der Tod des Komponisten Hans Werner Henze bedeutet das Ende einer Epoche, Abschied von einer Künstlergeneration, die bald nach dem Zweiten Weltkrieg gerade Deutschland und seiner musikalischen Moderne wieder Anerkennung verschaffte, weltweit. Unter den Komponisten seines Alters war er der am meisten begünstigte, im Leben wie in der Kunst der glücklichste. Der ganze Spielraum von Henzes künstlerischer Entfaltung lässt sich objektiv belegen - nachzuschlagen im Werkverzeichnis seines Verlags Schott in Mainz, dem stolzen Konvolut von mehr als vierhundert Seiten.

Wer in ihm blättert und liest, gerät ins Staunen: Von Oper und Ballett über große Orchester- und Kammermusik bis zu den Solo-Konzerten reicht dieses Œuvre, von den Vokalwerken, Kantaten, Liedzyklen und Solostücken bis hin zu den vielen Bearbeitungen fremder Musiken, das alles in extremer Reichhaltigkeit des Poetischen. Die rasante Produktivität des Mannes beruhte einerseits, ließe sich banal feststellen, auf einem steten Lebensrhythmus. Andererseits aber: Hinter aller positiven Geordnetheit musikalischer Erfindung und Schreibarbeit ist in Henzes Musik auch eine ungestüme, bis in Schmerzabgründe reichende Kraft zu hören, ein unerschöpflicher Drang, sich aus innerster Seele poetisch mitzuteilen, sich auszusingen.

"Optimale Hörbarkeit" wünschte der Komponist allen Darbietungen seiner Musik, wie er im Vorwort dieses Werkverzeichnisses sagt. Er gibt dazu eine Art Hilfestellung, die Beachtung verdient, weil sie etwas Wesentliches auch über die eigene Musik sagt: Beim Hören helfe "die Vorstellung, dass die Musik von der Mehrchörigkeit in Renaissance und Barock gelernt hat, von Bachs Kantatenmusik, und dass solche Strukturen hier nun auf die Empfindungswelt unserer Zeit - insbesondere meine persönliche - angewandt werden, auf die Vielfarbigkeit des modernen Symphonieorchesters, und übertragen auf das melodische und das polyphonische Denken, das meinen Personalstil ausmacht". Ein Künstler wie Hans Werner Henze kann und darf emphatisch über seine Kunst, das heißt von sich selbst sprechen.

Rückzug in die mediterrane Welt

Aufgefallen war schon früh, wie stark Henze sich als Moderner in den alten Traditionen der Musik zu Hause fühlte, weswegen er sich von den seriellen Avantgardisten der angeblichen Stunde null nach dem Krieg distanzieren zu müssen glaubte. Das brachte ihm zwar breite Akzeptanz ein, jedoch die Kritik der Pioniere des Neuen. Immerhin hat Henze das Mekka musikalischer Innovation, die Ferienkurse der Neuen Musik in Darmstadt als junger Komponist besucht, aber dort mit seiner ersten, Dodekaphonie mit Neoklassizismus kreuzenden Symphonie hauptsächlich Befremden ausgelöst. Opern, Symphonien, Streichquartette, Sonaten galten dem radikal-musikalischen Weltgeist der Nachkriegsstunde als ästhetisch überholt. Henze indes erkundete früh alle alten Formmodelle, er hatte Klavier und Schlagzeug studiert sowie Schönbergs Zwölftonlehre als Autodidakt, später bei René Leibowitz in Paris. Aber er ging dann doch in die Theaterpraxis - ans Staatstheater Wiesbaden als Dirigent und Leiter des Balletts.

Der am 1. Juli 1926 im westfälischen Gütersloh Geborene war noch bei der Wehrmacht gewesen und in britische Kriegsgefangenschaft geraten - die frühe NSDAP-Mitgliedschaft, erst 2009 auf einer Karteikarte entdeckt, ließ sich nicht sicher identifizieren. Der erste große Opernerfolg, "Boulevard Solitude" nach Prévosts "Manon Lescaut", öffnete ungeahnte Möglichkeiten: Auswanderung 1953 nach Italien.

Der Rückzug in die mediterrane Welt wird zur Zäsur des Lebens - Befreiung, eine Flucht aus Deutschland, wo die homoerotischen Neigungen damals noch mit gesellschaftlichem Bann belegt waren. Italien lehrt den spröden Musiker aus dem Norden nicht nur die Leichtigkeit des Seins, den Lebens- und Selbstgenuss, Henze erkämpft sich hier frei fließende Kreativität, in Neapel, später in Marino bei Rom. Es entsteht die Freundschaft mit Ingeborg Bachmann - Henze nennt sie "meine große Schwester . . . sechs Tage älter als ich, aber ihr Wissen - um die Welt, um die Menschen, um die Dinge der Kunst - übertraf das meine um zweitausend Jahre. Ich lehnte mich an sie an, ihr Geist half meiner Schwachheit auf". Von beiden stammen die betörenden "Nachtstücke und Arien".

Weitere Begegnungen künstlerischer Zusammenarbeit: mit Luigi Nono und Luchino Visconti, mit Hans Magnus Enzensberger und Volker Schlöndorff. Wie überhaupt die Verbindung zu Deutschland nie abreißt, Stimulans bleibt und Stachel gleichermaßen. Die angelsächsische Welt wird ihm daneben immer wichtiger. Henzes musikalische Kreativität und Produktivität ist übermächtig, der Strom schöpferischer Erfindung, nicht nur in Notenschrift, reißt in Jahrzehnten nie ab: Es entstehen neben der Musik ständig Notizen, Essays, Tagebücher, die Autobiografie der "Böhmischen Quinten". In teilweise dichter Abfolge komponiert Henze fürs Musiktheater zunächst Funkopern, dann den großen "König Hirsch" nach Carlo Gozzi, uraufgeführt 1956 an der Deutschen Oper Berlin, danach den "Prinzen von Homburg" und "Der junge Lord", beide auf Libretti Ingeborg Bachmanns, 1965 schließlich die hochdramatische Antikenoper der "Bassariden" für die Salzburger Festspiele. Bewunderung für den Großbürgermusiker Henze als inoffiziellen Strauss-Nachfolger, Kritik an solch expressiver Opulenz - das bürgert sich ein. Dann folgt jäh die Wende.

Die Chorkantate "Das Floß der Medusa", in memoriam Ernesto "Che" Guevara, verursacht den Musikskandal in der Bundesrepublik der Sechziger, Henze ist für viele der linke Komponist der Studentenrevolte, für manche nur Salon-Kommunist. Er tritt der Kommunistischen Partei Italiens bei, er reist nach Kuba, in die DDR. Seine musikalische Sprache gewinnt an Militanz, Schärfe und Transparenz, zu hören in "El Cimarrón" für Singstimme und kleines Ensemble, die vom Librettisten Enzensberger getextete Autobiografie des geflohenen Sklaven Estéban Montejo. Oder in der Szenischen Kantate "Streik bei Mannesmann", im "Versuch über Schweine". Höhepunkt: das aufsässig-dramatische Musiktheater "We come to the River", revolutionäre "Handlungen für Musik" auf ein Libretto Edward Bonds, uraufgeführt in Londons Royal Opera House 1976, kürzlich an der Dresdner Semperoper neu inszeniert.

Nach der politischen Phase

Wie der Komponist Henze Zeit-Raum finden konnte für den Pädagogen und Animateur gleichen Namens, blieb sein Geheimnis. Beim "Cantiere internazionale" von Montepulciano, dem Workshop-Festival in der Toscana ab 1976, trifft sich die junge Komponisten-, Interpreten- und Theatergeneration halb Europas. Und Henze lässt auch danach nicht ab von seiner Idee des "Arbeitsfestivals" für den Musiktheater-Nachwuchs. Er ging in die österreichische Provinz - und landete 1988 in der Kulturstadt München. Gleich die erste, vier Wochen andauernde Münchner Biennale für Neues Musiktheater war ein Ereignis, blieb es und strahlt noch immer weithin aus. Was Henze schuf, mit seinen Worten damals: einen "Schauplatz der heutigen, der jungen Theater-Kreativität . . . ein Theater mit menschennaher, mit neuer Musik, menschlichen Belangen, mit Aktualität, Vitalität und Zuversicht ".

Nach der politischen Phase freilich findet er, etwa mit der Oper "Das verratene Meer", zurück ins Muster bürgerlicher Literaturoper. Doch im Spätwerk überraschen märchenhafte Freiheiten im Handwerklichen, im Konzeptionellen, so im Musiktheater "Phädra" oder der lyrisch-sarkastischen Werfel-Kantate "Opfergang". Er war nie Kompositionstechniker und Konstruktivist gewesen, nur ein Poet der Menschen.

Bis zuletzt hat Henze komponiert, ist noch gereist. Vor fünf Wochen in Dresden: Der greise Komponist ist gekommen, um noch einmal "Wir erreichen den Fluss", die Antikriegsoper von 1976, zu erleben. In der Pause, er sitzt schmal geworden im Rollstuhl, antwortet er langsam, stockend, leise auf die Frage, woran er jetzt komponiere: "Jetzt muss mal Pause sein." Vorige Woche reiste er wieder nach Dresden, um sein Orchesterstück nach Trakls Gedicht "Sebastian im Traum" zu hören, Christian Thielemann dirigiert die Dresdner Staatskapelle. Danach wurde Henze ins Krankenhaus gebracht. Am Samstag ist Hans Werner Henze im Alter von 86 Jahren gestorben.

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