Nate Silvers Prognosen:Wahrsager der Demoskopie

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"Too close to call"? Die Floskel der Nacht passt nicht für Nate Silver. In allen 50 Bundesstaaten und D.C. sagte der Statistik-Experte der "New York Times" den Gewinner richtig voraus, bis auf Zehntelprozente genau.

Oliver Klasen

Gegen fünf Uhr morgens deutscher Zeit verkündeten die US-Sender Obamas Sieg. Nate Silver, der Chef-Statistiker der New York Times, war allerdings bereits seit Monaten davon ausgegangen, dass Romneys Chancen nur gering sind.  (Foto: AFP)

Der Blogeintrag von Nate Silver, dem Chefstatistiker der New York Times, datiert von 22:07 Uhr Ostküstenzeit, kurz nach vier Uhr morgens in Deutschland. Es geht um die Prognose für Virginia, einen der wichtigen Swing States, 13 Wahlmänner immerhin. Entschieden ist zu diesem Zeitpunkt noch nichts. Erst zwei Drittel der Stimmen sind in dem Staat ausgezählt, TV-Sender berichten, es steht 51 zu 47 Prozent für den Republikaner Mitt Romney. Enge Kiste, "too close to call".

"Too close to call" - das war die Lieblingsfloskel der Kommentatoren vor der Wahl. Kaum jemals zuvor war die Fallhöhe der Demoskopen so hoch wie bei Obama vs. Romney. Äußerst knapp war in den Swing States wochenlang der Abstand zwischen Demokraten und Republikanern. Mehrfach drehte die Stimmung, erst nach Obamas verpatztem Auftritt im ersten TV-Duell in Richtung der Republikaner, dann nach Hurrikan Sandy wieder ein bisschen zurück zu den Demokraten.

2008, nach acht Jahren George W. Bush, da war die Wechselstimmung in der Gesellschaft offensichtlich und ließ sich in Umfragen messen. 2012 war alles viel komplizierter. Der Arbeitsmarkt sprach aus Sicht der Wähler gegen Obama. Romneys Patzer im Wahlkampf wiederum gegen den Herausforder. Schwierig. Vor allem für die Demoskopen.

Ein Statistik-Nerd, der früher Baseball-Spiele analysierte

Einundfünfzig zu siebenundvierzig. Nate Silver bringt die nackte Zahl natürlich auch. Aber ihm reicht das nicht. Er will es genauer, präziser, mit mehr Analysetiefe. Also überschreibt er seinen Blogeintrag mit: " Vororte von D.C. könnten sich für Virginia als entscheidend erweisen". In Fairfax County, Loudoun County und Prince William County seien bisher nur zehn Prozent der Stimmen ausgezählt, bemerkt er. Die drei Bezirke, südlich und westlich der Hauptstadt Washington, seien, wie Silver schreibt, "von ihrer Sozialstruktur moderat und relativ wohlhabend". Im Jahr 2008 habe Obama nach 44 Jahren republikanischer Vorherrschaft Virginia vor allem wegen dieser Vororte gewonnen - und Romney habe nur dann eine Chance, wenn seine Werte dort dieses Mal besser seien. Waren sie aber nicht, Virginia ging an Obama.

Countys entsprechen ungefähr den deutschen Landkreisen, mit meist mehreren Hunderttausend Einwohnern, für US-Verhältnisse eine sehr kleine Einheit. Wer sich mit Hochrechnungen und Auszählungen auf dieser Ebene befasst, muss in gewisser Weise ein Nerd sein.

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Nate Silver, dessen Wahlumfragen-Blog FifeThirtyEight seit 2010 in das Webangebot der New York Times eingegliedert ist, ist vielleicht so ein Statistik-Nerd. Der 34-Jährige, der seine Karriere mit der Analyse von Baseball-Ergebnissen begann, gilt als einer der talentiertesten Demoskopen in den USA. Für seinen Blog hat er etliche Online-Journalismus-Preise gewonnen, das Nachrichtenmagazin Time kürte ihn einst zu einem der einflussreichsten 100 Menschen der Welt. Bei der Wahl 2008 sagte er den Sieger in 49 von 50 Bundesstaaten richtig voraus, nur in Indiana, wo Obama überraschend und sehr knapp gewann, lag er falsch.

In den Tagen vor der jetzigen Wahl sorgte allein Silvers Unterseite für 20 Prozent aller Klicks auf nytimes.com - selten war Statistik so gefragt. Und auch 2012 lag er richtig. In den vergangenen Wochen hatte er, anders als viele Institute, stets einen klaren Wahlsieg Obamas prognostiziert: Selbst als der Amtsinhaber nach dem ersten TV-Duell massiv unter Druck geriet, war Silver noch von einer Siegwahrscheinlichkeit von 61 zu 39 Prozent für Obama ausgegangen.

Mit seinen Voraussagen für die Swing States lag er ebenfalls richtig - und teilweise sehr dicht dran am tatsächlichen Ergebnis. Beispiel North Carolina, einer der wenigen umkämpften Staaten, die an die Republikaner gingen: Dort war Silver von einem Stimmenverhältnis von 48,9 zu 50,6 zugunsten von Romney ausgegangen. Fast genauso kam es. Romney konnte nach dem Endergebnis 50,6 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen, Obama nur 48,4 Prozent.

Auch in den anderen bis zum Mittwochmittag nahezu komplett ausgezählten Swing States wie Pennsylvania, Virginia oder Wisconsin liegt Silver häufig nur um wenige Zehntelprozentpunkte daneben. Am Ende hat er in allen 50 Staaten und in Washington D.C. den Gewinner richtig prognostiziert - auch das extrem knappe Rennen im schwer vorauszusagenden Florida war für Silver keine Überraschung. Dort war er von einer Siegwahrscheinlichkeit von 50,3 Prozent für Obama ausgegangen.

Traditionelle Telefonbefragungen stoßen an Grenzen

Die Überlegenheit von Silvers Prognosen basiert vor allem auf Metaanalysen. Er selbst erhebt keine Daten, sondern bedient sich der Zahlen der Meinungsforschungsinstitute wie Gallup, YouGov, American Research Group oder Rasmussen. Silver mischt aber nicht einfach nur die anderen Umfragen, sondern bezieht auch demografische Kennzahlen und Daten aus vergangenen Wahlen ein, sofern sie verfügbar sind. Aus allem errechnet er nach komplizierten stochastischen Verfahren eine Projektion, also den zu erwartenden Stimmenanteil, der vom Durchschnitt der anderen Umfragen teilweise deutlich abweicht.

Korrekturmechanismen und Ausgleichsfaktoren werden in der modernen Demoskopie immer wichtiger. Allein mit einer Wählerbefragung lässt sich das konkrete Verhalten an der Urne oft nicht mehr sicher genug voraussagen. So wurden früher zum Beispiel die Telefoninterviews, auf denen die Umfragen basieren, grundsätzlich über Festnetzanschlüsse geführt. Wichtige Bevölkerungsgruppen haben heute aber nur noch Mobiltelefone. Sie würden aus der Stichprobe herausfallen. Für die Prognose des Wahlausgangs ist es außerdem wichtig, die Personen zu erreichen, die tatsächlich ihre Stimme abgeben. In Umfragen geben viele Bürger jedoch nicht zu, dass sie eigentlich Nichtwähler sind.

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Obwohl auch die meisten anderen Meinungsforscher bei der US-Wahl 2012 von der Tendenz her ebenfalls richtig lagen, scheinen Silvers Methoden überlegen zu sein und Ergebnisse präziser voraussagen zu können.

Im Vorfeld der US-Wahl war er sich so sicher, dass er dem konservativen Nachrichtenmoderator Joe Scarborough, der gesagt hatte, dass niemand eine Ahnung habe, wie die Wahl ausgeht, via Twitter eine Wette anbot: Sollte Romney gewinnen, wollte Silver 1000 Euro an das Rote Kreuz spenden. Bei einem Obama-Sieg sollte Scarborough zahlen. Silver ging es dabei nicht ums Geld. Er wusste mit 100-prozentiger Wahrscheinlichkeit, dass er recht behalten würde.

"Too close to call" ist eine Wendung, die er offenbar nur im äußersten Notfall verwendet.

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