Auf hoher See:Die Schweiz und die Seefahrt

Den Willen, eine seefahrende Nation zu sein, kann auch ein Gebirge nicht bremsen: Noch heute unterhält die Schweiz eine kleine Handelsflotte - ein Relikt aus dem Zweiten Weltkrieg. Doch keine Angst: Ihrer Neutralität verpflichtet, haben die Eidgenossen bis heute keine Kriegsmarine.

Klaus C. Koch

Für gewöhnlich heißen sie Weggis, Flüelen oder - nach einem Bergrücken - auch Pfannenstiel. Im Land von Rösti, Ricola und Käsefondue fahren Schiffe auf dem Genfer See, dem Vierwaldstätter- oder Zürichsee. Schließlich verfügt das Alpenland nicht über einen eigenen Zugang zu den Weltmeeren. Aber Tatendrang, die Auswandererwelle im 19. Jahrhundert und eine ordentliche Portion Geschäftssinn ließen die Eidgenossen nicht an solchen Handicaps verzweifeln. Reedereien wie die Oceana Shipping aus Chur, die San Bernardino Schifffahrtsgesellschaft oder die Enzian Ship Management AG unterhalten noch heute eine kleine Armada von 38 Schweizer Schiffen, die auf internationalen Routen um die Welt schippern.

Den Willen, eine seefahrende Nation zu sein, kann auch ein Gebirge nicht bremsen. 2009 schwebte die Alinghi zur Teilnahme am America's Cup am Haken eines Hubschraubers, von Genf über den Großen St. Bernhard nach Genua. Und schließlich stammen auch namhafte Meeresforscher und Weltumsegler aus dem Alpenland. Tiefsee-Pionier Jacques Piccard, der 1960 im Marianengraben in seinem Bathyskaphen den Tauchrekord von 10 916 Meter aufstellte, Vater von Ballon-Weltumsegler Bertrand, ankerte mit seinem Mini-U-Boot Forel bis zuletzt vor dem 8000-Seelen-Städtchen Lutry am Genfer See.

Eine eigene Küstenfunkstelle seit 1922

"Irgendetwas", sagt Walter Zürcher, 55, der selbst zwei Jahre lang als Schiffsoffizier auf den Weltmeeren Dienst tat, "muss die Eidgenossen wohl in die weite Welt und aufs offene Meer getrieben haben." Es gibt sogar eine eigene Küstenfunkstelle, die - 1922 als Radiostation gegründet - seit 2009 in einem weltweiten Netzwerk betrieben wird. Die Kurzwellen-Sendeanlage steht in Prangins in der Nähe des Genfer Sees, die Empfangsanlage bei Bern.

Mitte des 19. Jahrhunderts nahmen - wie in anderen Ländern Europas - auch in der Schweiz die ersten Auswanderungsagenturen ihre Arbeit auf. Die Überfahrt in die Neue Welt fand auf Segelschiffen statt, die zwischen 35 und 45 Tage unterwegs waren. Seuchen und Schiffskatastrophen, waren an der Tagesordnung, zeitweise erreichte nur jeder dritte Auswanderer sein Ziel. Vereinzelt waren bereits Raddampfer unterwegs, die die Reisezeit auf 14 Tage verkürzten.

Während der Kriege schien die neutrale Schweizer Flagge eine gewisse Sicherheit zu bieten. Tatsächlich anerkannt wurde sie aber bis zum Zweiten Weltkrieg nicht. Fachleute bemängelten ohnehin "das Fehlen einer eigenen Kriegsmarine". In Bern wurden Ideen gewälzt, Nizza, Genua oder Venedig wie das französische Savoyen am Lac Leman, mit einem Sonderstatus zu "assoziieren". Aus finanziellen Gründen scheiterte auch der Vorschlag, zwischen Nizza und Livorno einen kompletten Schweizer Hafen zu bauen. Der Schweizer Konsul in Philadelphia schlug vor, die Insel Zypern zu erwerben. Gar nicht schlecht schien 1889 einem deutschen Kapitän die Idee, zwei Schnelldampfer und dazu gleich noch den Hafen von Nordenham zu kaufen, um ihn eidgenössisch auszustaffieren. Aus welchen strategischen Gründen auch immer, standen britische Investoren wie auch mehrere Versicherungsgesellschaften bereit, um dieses Projekt an kaiserlich-wilhelminischem Gestaden zu unterstützen. Der Bundesrat in Bern sagte trotzdem nein, weil kein einziger Schweizer mit von der Partie war, der es gerechtfertigt hätte, die dazugehörige Identität zu vertreten.

Von der Schweiz aufs hohe Meer

Tatsache ist, dass Schiffe - auch ohne Hochseehafen - sowohl auf der Rhône nach Genf als auch über den Rhein in die Schweiz gelangen können; sie dürfen aber nicht mehr als 1,20 Meter Tiefgang haben. Blieb die Idee, Basel zum Umschlagsplatz für Schiffstransporte von und nach Köln, Düsseldorf und Rotterdam zu machen. Was angesichts des Klimawandels und schwankender Pegelstände heute aber ebenfalls mit Hindernissen versehen ist.

Der eidgenössische Weg war schließlich der, sich unter fremder Flagge einzukaufen. "Wenn es anders nicht zu machen war", sagt Zürcher, heute Analyst im Eidgenössischen Verteidigungsdepartement, "bedienten sie sich eines Strohmannes." Völlig legitim wurden aber auch nicht wenige Kaufleute aus dem Alpenland in den Hafenstädten zu Reedern. Einer der prominentesten war Gottfried Schenker aus Solothurn. Noch zu K.u.K.-Zeiten, als die österreichische Donaumonarchie über italienische Häfen wie Fiume und Triest verfügte, gründete er in Wien die Adria Steamship Company, später die Austro-Americana. Schifffahrtsgesellschaften, die bereits ordentliche Dampfer bauten wie die 1918 zum Kriegsende in New York beschlagnahmte 140 Meter lange Martha Washington mit ihren 7300 PS oder die Kaiser Franz Joseph I., die mit 12 800 PS und bis zu 675 Passagieren auf der Südamerika-Linie verkehrte.

Ein aus St. Gallen stammender Daniel Steinmann begründete im belgischen Antwerpen die White Cross Line, und übernahm auf allen Schiffen, die unter seiner Regie liefen, die Schweizer Flagge als Markenzeichen. Der Segler Helvetia gehörte zu den ersten Schiffen. Mit Dampfschiffen hatte die White Cross Line weniger Glück. Sechs von acht gingen verloren.

Als Pioniere betätigten sich Männer wie Henry Tschudi, Spross einer alteingesessenen Familiensippe aus dem Glarnerland, die es nach Norwegen zog. Das relativ kleine Land war mit seiner Hauptstadt Kristiania, dem heutigen Oslo, Ende des 19. Jahrhunderts hinter Großbritannien und den Vereinigten Staaten unversehens zu einer der führenden Seefahrernationen aufgestiegen. Bei Tschudi und seinem Compagnon Eitzen lagen bald Schiffe wie die Eiger, eine Titlis, die Rigi oder 1906 der Dampfer Gotthard auf Reede. In zurückliegenden Jahren transportierte Tschudi & Eitzen mit mehreren zehntausend Tonnen schweren Spezialschiffen gigantische Wellenbrecher für die Ölplattform Ekofisk und baute Hochseeschlepper, die bei erheblichen Minusgraden auch mal Riesentanker in der Hudson Bay vom Eis zogen. Felix Henry Tschudi fühlt sich mit seiner Schweizer Herkunft, aber auch als norwegischer Staatsbürger gut aufgehoben.

Dass die Schweiz heute tatsächlich über eine eigene Hochseeflotte verfügt, liegt daran, dass die Versorgungslage des Alpenstaates sich im Zweiten Weltkrieg unter dem Eindruck des U-Boot-Krieges auf den Weltmeeren verschärfte. Als erstes kaufte der Alpenstaat 1941 die Calanda. Das zweite war die Majola, der die Schweizer Flagge allerdings nichts nützte. Sie wurde am 7. September 1943 aus Versehen von britischen Flugzeugen versenkt. Nach Kriegsende wurde die Handelsflotte beibehalten. Der Bund verkaufte seine Schiffe an Privateigentümer. Heute macht die Schweizer Hochseeflotte ein Tausendstel der Welthandelsflotte aus. Nur eines dürften Eidgenossen unter Schweizer Flagge vermissen: Seeleute, die tatsächlich noch wie Walter Zürcher aus dem Alpenland stammen. 2009 hatten von 659 Seeleuten aus 17 Nationen nur noch acht einen Schweizer Pass.

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