Mehrgliedriges Schulsystem:Etikettiert wie Eier

Güteklasse A, B oder C? Ob Kinder auf die Hauptschule oder das Gymnasium gehen, hat wenig mit Intelligenz und Begabung zu tun - sondern viel mit unserer maroden Schulstruktur.

T. Schultz

Ein gerechtes Schulsystem ist vielfältig gegliedert: Es lebt von einem Unterricht der vielen Geschwindigkeiten, in dem individuelle Förderung kein leeres Wort bleibt. Es verzichtet auf das schematische Sortierverfahren, das in vielen Bundesländern mit der Trennung in Gymnasiasten, Haupt-, Real- und Sonderschüler noch immer üblich ist. Ein gutes Schulsystem ist nicht drei- oder viergliedrig, sondern tausendgliedrig. Es stellt den einzelnen Schüler mit seinen Stärken und Schwächen in den Mittelpunkt, statt ihn einzupassen und zuzurichten auf einen bestimmten Schultyp.

Mehrgliedriges Schulsystem: Wer darf aufs Gymnasium, wer muss auf die Hauptschule? In der Intelligenz sind die Unterschiede zwischen den meisten Menschen nicht allzu groß.

Wer darf aufs Gymnasium, wer muss auf die Hauptschule? In der Intelligenz sind die Unterschiede zwischen den meisten Menschen nicht allzu groß.

(Foto: Foto: dpa)

Eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin hat gerade wieder gezeigt, dass die Zuordnung der Kinder nach der Grundschule sehr fehleranfällig ist. Mit Intelligenz und Begabung hat der Besuch eines Gymnasiums oder einer Hauptschule oft weniger zu tun als mit der sozialen Herkunft des Schülers.

Hoffnungslose Fälle

Kinder lassen sich nicht etikettieren wie Eier, denen man die Güteklasse A, B oder C aufstempelt. Sie entwickeln und entfalten sich; was Kinder lernen, hängt ab von dem Lernmilieu, in das sie geraten, und der Zuwendung, die sie erhalten. Auch Fleiß und Motivation haben großen Einfluss auf den Lernerfolg, sie entstehen jedoch nicht unabhängig vom sozialen Umfeld und der Anerkennung, die Kinder erfahren sollten.

In der Intelligenz sind die Unterschiede zwischen den meisten Menschen nicht allzu groß. Es gibt ein paar herausragende Geister, denen alles leichtfällt, und andere, die sich schwerer tun. Die meisten aber liegen, zumindest in ihrem Lernpotential, nicht sehr weit voneinander entfernt und unterscheiden sich vor allem in ihren Interessen, ihrem Vorwissen und dem Eifer, den sie fürs Lernen aufbringen. Dieser Eifer kann schnell erlahmen, wenn jemand das Gefühl hat, wenig wert zu sein und ohnehin zu scheitern. In vielen Hauptschulen sitzen Jugendliche, die sich schon als Zehn- und Elfjährige für hoffnungslose Fälle halten. Ein Schulsystem, das massenhaft solche Selbstbilder erzeugt, braucht dringend eine Therapie.

Die Therapie, die Reformpädagogen empfehlen, ist eine "Schule für alle", die auf rigide institutionelle Grenzen verzichtet. Das Modell ist vielversprechend, muss allerdings eine Antwort finden auf verbreitete Sorgen und berechtigte Einwände: Die Rücksicht auf Leistungsschwächere darf die Stärkeren nicht in ihrem Lerndrang behindern. Und Schwächere müssen geschützt werden vor dem Frust, der auch dann entstehen kann, wenn sie ständig und unmittelbar mit vielen Stärkeren konfrontiert sind. Es gibt Reformschulen, denen es bereits gelungen ist, eine differenzierte Lernkultur zu entwickeln, die sowohl die Schwächeren als auch die Stärkeren anspornt.

Ende des Frontalunterrichts

Doch vielen Lehrern fällt es schwer, die Fiktion homogener Leistungsklassen aufzugeben, die das deutsche Schulsystem traditionell bestimmt. Um ihren Schülern besser gerecht zu werden, brauchen sie außerdem bessere, großzügiger vergebene Ressourcen. Statt vor großen Klassen zu stehen, die sie frontal belehren, müssen Lehrer in die Rolle eines pädagogischen Anregers und Begleiters wachsen können, der nicht ein fixes Klassenziel verfolgt, sondern den Kindern unterschiedliche Wegmarken setzt.

Eine neue Schulstruktur bringt wenig (oder ist sogar gefährlich), wenn nicht auch die Schulkultur und der Unterricht sich wandeln. Deshalb sind revolutionäre Taten oder handstreichartige Reformen in der Schulpolitik oft so fruchtlos. Eine "Schule für alle" lässt sich in Deutschland wegen des erbitterten Widerstands der Konservativen ohnehin nicht so einfach durchsetzen. Mehrere Bundesländer führen aber nun auch aus demographischen Gründen ihre Haupt-, Real- und Gesamtschulen zusammen. Viele Eltern und Lehrer würden sich wünschen, dass dabei nicht jedes Land wieder ein eigenes Modell erfindet. Aber das führt zu einem ganz anderen - dem föderalen - Gliederungsproblem.

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