"Stern"-Vorwurf gegen Brüderle:Chauvinismus im Kosmos Berlin

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Rainer Brüderle - ein aufdringlich-schlüpfriger Heranwanzer? Auch wenn der "Stern"-Artikel über den FDP-Fraktionschef übers Ziel hinausschießt: Dass Journalistinnen den Sexismus im Politikbetrieb anprangern, stößt eine wichtige Debatte an. Denn Chauvinismus hat auch mit der Ballung von Macht zu tun.

Ein Kommentar von Nina Bovensiepen

Der Berliner Politikbetrieb ist ein ganz eigener Kosmos. Er ist bevölkert von Politikern, Einflüsterern und Journalisten, von denen die einen um Parteivorsitze kämpfen, andere um die beste Exklusivstory, manche um Lösungen für die Euro-Krise. Täglich schlägt sich all das in einer Flut von Artikeln nieder.

In jüngster Zeit sind zwei Beiträge erschienen, die den Kosmos Berlin aus einer ganz anderen Warte betrachten. Zwei junge Journalistinnen haben sich des Themas Sexismus im Politbetrieb angenommen. Die eine hat im Spiegel über das frauenverachtende Verhalten der Piratenpartei ihr gegenüber berichtet.

Die andere schildert im aktuellen Stern eine Episode, bei der sie den FDP-Politiker Rainer Brüderle als aufdringlich-schlüpfrigen Heranwanzer erlebt habe. Via Twitter und andere Medien wird insbesondere über den Stern-Artikel erregt debattiert. Kritiker empören sich, dass ein einzelner Politiker aufgrund eines einzelnen Vorfalls, der ein Jahr zurückliegt, derart hingehängt wird.

Artikel beschreibt ein vergleichsweise harmloses Ereignis

Tatsächlich schießt dieser Beitrag übers Ziel hinaus. Das Magazin spiegelt vor, ein System zu kritisieren und kapriziert sich nur auf ein vergleichsweise harmloses Ereignis. Das ist schade, weil die Debatte an sich begrüßenswert ist. Es ist auch kein Zufall, dass sie sich in einer Zeit Bahn bricht, in der die Diskussion über eine Frauenquote nirgends länger ignoriert werden kann: weder im Politikbetrieb noch in Vorstandsetagen oder Chefredaktionen.

Das Thema Frauenförderung, der Wunsch von Frauen, an wichtigen Entscheidungen und Führungspositionen teilzuhaben, hat sich festgesetzt in der Gesellschaft. Um das zu forcieren, solidarisieren Frauen sich - nicht immer gekonnt, aber zunehmend wirkungsvoll. Es entstehen Netzwerke, in denen etwa Journalistinnen sich gegenseitig Mut zusprechen oder -twittern. Auf diese Weise trauen sich jetzt einige leichter, am Chauvinismus im Berliner Politbetrieb zu rühren.

Das ist nicht einfach, denn dieser Betrieb ist nach wie vor männlich dominiert. Die Berliner Republik mag, was den Testosteronfaktor betrifft, eine abgeschwächte Variante des Supermachismo zu Bonner Zeiten darstellen. Doch immer noch dürften hier sexuelle Anzüglichkeiten und Übergriffe deutlich über dem statistischen Mittel liegen. Ähnliches lässt sich am ehesten noch in Bereichen der Wirtschaft beobachten, in denen alte Traditionen und Führungsmechanismen überdauert haben.

Hier wie dort hat der Chauvinismus mit der Ballung von Macht zu tun; mächtige Menschen lassen sich die eigene Geltung gerne durch Erfolg beim anderen Geschlecht bestätigen, das war schon immer so. Es hängt auch damit zusammen, dass viele Gespräche abends in vermeintlich gemütlicher Runde beim Wein geführt werden, wo professionelle Distanz und taktische Nähe bisweilen verschwimmen (woran nicht immer der Mann schuld ist!).

Es hat ferner mit so schlichten Dingen zu tun wie der Tatsache, dass nach langen Abenden in Berlin auf manchen Abgeordneten keine Familie wartet, weil die weit weg im Wahlkreis wohnt. In der Konstellation Einsamkeit, Weinseligkeit und Erhabenheit über das eigene Tun halten sich Rituale, die anderswo überwunden sind.

So manche Frau könnte darüber berichten. Viele tun es nicht, weil sie die Angriffe fürchten, derer sie sich dann erwehren müssen - etwa den meist unterschwellig vorgetragenen Vorwurf, ob sie Schlüpfrigkeiten und Tätscheleien nicht selbst provozieren. Oder die Frage, ob sie vielleicht einfach nicht tough genug sind, die raue Realität im Machtgefüge zu ertragen.

Tough ist es, wenn Frauen die Angst vor genau solchen Reaktionen hintanstellen und Dinge trotzdem beim Namen nennen - was nicht heißt, dass jeder Chauvi namentlich an den Pranger gehört.

© SZ vom 25.01.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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