Barmer-Report zum Zappelphilipp-Syndrom:Krankenkasse warnt vor "Generation ADHS"

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Um 42 Prozent ist die Anzahl der Kinder und Jugendlichen, die Ärzten zufolge in Deutschland unter ADHS leiden, in den vergangenen Jahren gestiegen. Aber gibt es tatsächlich immer mehr Kinder mit Zappelphilipp-Syndrom oder wird ADHS zu häufig diagnostiziert?

Von Berit Uhlmann

Als neues Phänomen kann man das Zappelphilipp-Syndrom wahrlich nicht betrachten. Kaum ein Ruhebedürftiger, der nicht schon einmal argwöhnte, das laute Nachbarskind könnte unter ADHS leiden, wie die Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung abgekürzt wird. Auch die Kriterien, nach denen Ärzte die Krankheit feststellen, sind seit Jahren die gleichen. Es kann also kaum auf einen Neuartigkeits-Effekt zurückgeführt werden, wenn die Zahl der Diagnosen rapide nach oben schnellt. Wächst in Deutschland eine "Generation ADHS" heran, wie die Barmer GEK befürchtet?

Die Krankenkasse hat ihre Patientendaten von 2006 bis 2011 durchforsten lassen. In diesem Zeitraum stieg die Rate der Diagnosen bei Kindern und Jugendlichen um 42 Prozent: von 2,92 auf 4,14 Prozent. Es geht sogar noch eindrücklicher: Rechnet man die Daten hoch, müssen im Laufe ihres Lebens ein Viertel aller Männer und mehr als zehn Prozent aller Frauen mit einer ADHS-Diagnose rechnen, wie die Forscher vom Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung darlegen. Jeder vierte Junge oder Mann soll ein Zappelphilipp sein? Rolf-Ulrich Schlenker, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Barmer GEK, sieht die Entwicklung mit Sorge: "Dieser Anstieg erscheint inflationär. Wir müssen aufpassen, dass die ADHS-Diagnostik nicht aus dem Ruder läuft und wir eine ADHS-Generation fabrizieren".

Dafür, dass nicht immer die Erkrankung selbst, sondern lediglich die Diagnosen zunehmen, sprechen die großen regionalen Unterschiede. In der Auswertung der Barmer-Daten sticht - aus Gründen, die die Studienautoren nicht nennen können - die Region Würzburg hervor. Fast 19 Prozent aller Jungen zwischen zehn und zwölf Jahren erhielt hier 2011 die Diagnose ADHS. Im Bundesdurchschnitt sind es nur zwölf Prozent. Auch bei den Mädchen liegt die Diagnoserate in Unterfranken deutlich höher als im Bundesdurchschnitt.

Unterschiede stellten die Studienautoren auch fest, was Alter und Bildungsstatus der Eltern angeht. Bei Kindern aus weniger gebildeten Familien wird die Erkrankung häufiger diagnostiziert. Auch fanden die Wissenschaftler Hinweise darauf, dass die Kinder jüngerer Eltern ein höheres Diagnose-Risiko haben als der Nachwuchs etwas älterer Mütter und Väter. So erhalten Kinder mit einem Elternteil zwischen 20 und 24 Jahren etwa 1,5-mal häufiger eine ADHS-Diagnose als Kinder mit Eltern zwischen 30 und 35 Jahren. "Ob das an einer größeren Gelassenheit von Eltern im fortgeschrittenen Alter liegt oder an Erziehungsproblemen jüngerer, bleibt offen", sagt Schlenker.

Interpretiert man diese Daten zu weit, wenn man vermutet, dass manche Diagnose eher auf überforderte Eltern als auf eine echte Erkrankung zurückgeht? Barmer-Vize Schlenker warnt jedenfalls: "Pillen gegen Erziehungsprobleme sind der falsche Weg". Er plädiert für "trennscharfe Diagnosen" und für Zurückhaltung bei der Medikamentengabe. Hilfen wie Elterntraining und Verhaltenstherapie seien vorzuziehen. Ritalin dürfe dagegen nicht das Mittel der ersten Wahl sein.

Doch die Verordnungen mit Ritalin (Methylphenidat) sind zumindest bis 2010 ebenfalls gestiegen. Im Laufe der Kindheit und Jugend dürften schätzungsweise zehn Prozent aller Jungen und 3,5 Prozent aller Mädchen mindestens einmal das Medikament erhalten.

Die Diagnose ADHS wird seit Jahren kontrovers diskutiert. Ihre Merkmale - Konzentrationsunfähigkeit, Unruhe und Impulsivität - sind auch abhängig vom Charakter und Alter des Kindes. So ergab eine große kanadische Studie im vergangenen Jahr, dass Kinder, die bei der Einschulung gerade erst schulpflichtig geworden sind, fast eineinhalbmal so oft Ritalin verschrieben bekommen, wie ältere Klassenkameraden. Die Autoren befürchteten Überdiagnosen.

Im Jahr 2011 wurde ADHS in Deutschland bei rund 750.000 Menschen festgestellt (552.000 Männer, 197.000 Frauen). Mit rund 620.000 Betroffenen entfiel das Gros auf die Altersgruppe bis 19 Jahre (472.000 Jungen, 149.000 Mädchen).

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