EU-Beitritt der Türkei:Zurück auf Los

Irgendwie ist die Türkei den Deutschen und Europa aus den Augen geraten. Umgekehrt gilt das auch. Gerade besucht Merkel das Land. Es wurde Zeit. Auch für einen neuen, ernsthaften Anlauf für einen EU-Beitritt. Doch auf Knien muss dabei keiner rutschen.

Ein Kommentar von Christiane Schlötzer

Istanbul, Anfang des Jahres: Neuer Anlauf für einen türkischen EU-Beitritt

Istanbul, Sultan Ahmed Moschee, Anfang des Jahres: Neuer Anlauf für einen türkischen EU-Beitritt

(Foto: REUTERS)

Fast 7000 Kilometer Luftlinie sind es von Ankara nach Peking. Zwischen Ankara und Brüssel liegen nur 2500 Kilometer, und doch ist der Weg viel weiter. Jüngst hat der türkische Regierungschef Tayyip Erdogan vorgeschlagen, sein Land solle der "Shanghai Organisation" mit Sitz in Peking beitreten. Der EU könne die Türkei dann ruhig den Rücken kehren. Das Shanghai-Bündnis sei "besser und viel mächtiger". Ein Blick auf die Mitgliederliste verrät, was Erdogan meint: China, Russland, Usbekistan, Kasachstan, Tadschikistan. Diese Staaten müssen sich am europäischen Acquis - dem Regelwerk für Menschenrechte, Pressefreiheit und Umweltschutz - nicht abarbeiten.

Das Selbstbewusstsein der Türkei, besonders ihres Premiers, steht in hartem Gegensatz zu der Aufmerksamkeit, die das Land zuletzt in Europa gefunden hat. Irgendwie ist die Türkei aus den Augen geraten. Umgekehrt gilt das auch: Der letzte Brüsseler Fortschrittsbericht war der Regierung in Ankara kaum einen Kommentar wert. Früher wurde das Demokratie-Zeugnis regelmäßig mit Spannung erwartet. Das hat sich geändert.

Diese neue Distanz hat Folgen: Journalisten in den Gefängnissen? Die Regierung in Ankara zuckt mit den Schultern. Kritik aus Brüssel wegen prügelnder Polizisten? Ankara fürchtet sie nicht mehr. Das ist nicht gut für die Türkei - und auch nicht für Europa, und dies nicht nur, weil Millionen Türken in der EU leben.

Als die EU-Beitrittsgespräche 2005 eröffnet wurden, war die Euphorie in der Türkei groß. Aber die Frühlingsgefühle verflogen rasch. Nun hat Frankreichs Präsident François Hollande erkannt, dass die Beziehungen zur Türkei einen Neustart brauchten.

Damit bricht der Sozialist mit der Politik seines Vorgängers Nicolas Sarkozy. Der hatte mit seinem Veto die Fortsetzung der Verhandlungen zwischen Ankara und Brüssel blockiert. Für Erdogan war das bequem. Er konnte mit dem Finger auf andere zeigen, wenn er den eigenen Bürgern erklären musste, warum aus dem alten türkischen Traum von Europa immer noch nichts geworden ist. Damit ließ sich gut von eigenen Fehlern ablenken.

Diese Ablenkung hat zuletzt auch deshalb so gut funktioniert, weil das türkische Wirtschaftswachstum Höhen erreicht, die für Europa noch lange unerreichbar sein werden. Der neue Reichtum beschert Erdogans Partei AKP auch nach zehn Jahren an der Macht hohe Zustimmungsraten. Aber die Unzufriedenheit wächst. Die AKP ist vielen Türken zu mächtig und zu selbstbewusst, es gibt Klagen über Korruption und Günstlingswirtschaft. Der Krieg im Nachbarland Syrien macht Angst. Türken wissen, dass sich ihr Leben von heute auf morgen ändern kann. Das hat die Geschichte zu oft bewiesen: Inflation, Erdbeben, Putsche haben sich ins gesellschaftliche Gedächtnis eingegraben.

Die Europa-Perspektive und die Bindung der Türkei an den Westen waren über viele Krisen hinweg stets ein wichtiges Stabilitätsversprechen. Wer das aufgibt, würde in der Türkei ein politisches Trauma auslösen. Wer meint, auch eine privilegierte Partnerschaft reiche für Ankara, es müsse nicht die Mitgliedsperspektive sein, der soll ehrlicherweise auch sagen, dass ihm demokratische Standards weniger wichtig sind als die Zollfreiheit mit dem Boomland Türkei.

Nun ist Angela Merkel in der Türkei, der bisher letzte Besuch liegt drei Jahre zurück. In dieser Zeit war Erdogan vier Mal in Deutschland gewesen. Es wurde Zeit für die Reise der Kanzlerin. Auf Knien muss dabei keiner rutschen, wie EU-Kommissar Günther Oettinger meinte. Es genügt, wenn beide Seiten auf Überheblichkeit verzichten und sich auf Augenhöhe begegnen. Und wenn Merkel die Tür nicht gleich wieder zuschlägt, die Hollande geöffnet hat.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: