Familien in Deutschland:Trügerisches Idyll

Die gute Nachricht: Deutsche Kinder sind glücklich. Die schlechte: Sie werden selbst wohl kinderlos bleiben.

Doris Bühler-Niederberger

Entgegen dem öffentlichen Diskurs leben Kinder in Deutschland mehrheitlich mit beiden leiblichen und verheirateten Eltern. Und sie sind selten Einzelkinder, noch immer wachsen viele Kinder in einer Familie mit drei und mehr Kindern auf, gut die Hälfte lebt in einer Zweikindfamilie. Kinder in Deutschland leben meist auch in einer Familie mit traditionellen Geschlechterrollen, in der der Mann Hauptverdiener und die Frau Hausfrau oder teilzeitbeschäftigt ist. Daran ändert sich wenig, wenn die Kinder heranwachsen, selbst wenn das jüngste Kind älter als 15 Jahre ist, ist in den alten Bundesländern nur ein Viertel der Mütter wieder voll im Beruf.

Familie, Kinder, iStockphotos

Geschlechterrolle und Arbeitsteilung: Die meisten Familien entsprechen dem traditionellen Bild. Doch die Idylle trügt.

(Foto: Foto: iStockphotos)

Ebenso traditionell ist die Arbeitsteilung innerhalb der Familie: Verantwortung und Arbeiten für den Haushalt und die Erziehung fallen der Frau zu, der Mann hat seine Beteiligung an dieser Arbeit in den letzten Jahrzehnten unwesentlich gesteigert. Viele Paare starten ihre Ehe zwar mit partnerschaftlichen Vorstellungen, aber par force des choses kommen sie nach einigen Jahren und vor allem nach der Geburt der Kinder wieder zu einer traditionellen Rollenverteilung.

Die meisten Kinder sind zufrieden mit den Bedingungen ihrer Kindheit. Auch die Jugendlichen beurteilen - schon im Rückblick - ihre Eltern und ihre Erziehung als günstig: In der Shell-Jugendstudie von 2002 sagten fast siebzig Prozent, dass sie ihre Kinder im Prinzip genauso erziehen würden, wie sie selbst erzogen worden seien.

Aber - und hier erhält das idyllische Bild einen Kratzer - nur ein Teil der Jugendlichen, die in der aktuellen Jugendgeneration ihre Eltern so günstig beurteilen, wird selbst Eltern werden. Viele werden kinderlos bleiben, und dies betrifft vor allem Frauen mit hoher Bildung. Als Begründung nennen sie am häufigsten das Fehlen einer geeigneten Partnerschaft, nicht etwa die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Tradition fordert einen hohen Preis

Viel grundsätzlicher als die Frage nach der Kinderbetreuung scheint also das Beziehungsmodell zwischen Mann und Frau, das ja vor allem rund um die Vorstellung einer guten Kinderstube zementiert wurde, für diese Frauen ein Problem darzustellen. Bei den Männern bleiben vor allem diejenigen mit geringer Bildung kinderlos: Das Festhalten am traditionellen Bild einer tragfähigen Beziehung und guten Familie kostet einen ziemlich hohen Preis - individuell und gesellschaftlich.

Die mangelnde Leistungsgerechtigkeit des deutschen Bildungssystems kommt hinzu. Kinder mittlerer und höherer Schichten verfügen über mehr Kompetenzen, die sie in der Schule geltend machen können. Zu erklären ist dies aus der Interaktion der Eltern mit ihren Kindern: Sie stellt stark auf Sprache ab, erschöpft sich nicht in Anweisungen und Tadel, sondern beinhaltet Ermutigung und fordert die Kinder zur Äußerung ihrer Meinungen auf. Dies fördert den Erwerb sprachlicher Fähigkeiten beim kleinen Kind und begünstigt die intellektuelle Entwicklung insgesamt.

Ungerechtigkeit in der Kindheit

In der World-Vision-Studie urteilten die acht- bis elfjährigen Kinder aus höheren sozialen Schichten deutlich günstiger über die ihnen von den Eltern zugestandenen Freiheiten, über die Berücksichtigung ihrer Meinung durch die Eltern; sie gaben seltener an, geohrfeigt oder gar geprügelt zu werden. Entgegen den Warnrufen, die dezidiert Grenzen und Disziplin fordern und die sich zurzeit auf dem Buchmarkt gut verkaufen, gilt also: Kinder höherer Schichten genießen mehr Freiheit als andere und einen partnerschaftlicheren Erziehungsstil - sie wissen es zu schätzen und entwickeln entsprechende Kompetenzen.

Die Schule fügt den vorhandenen Ungleichheiten neue Ungerechtigkeiten hinzu: Bei gleichen Kompetenzen und Noten werden Kinder aus tieferen sozialen Schichten aufgrund von Eltern-, aber auch Lehrerentscheidungen und -urteilen seltener ins Gymnasium eingeteilt. Dass über spätere Lebenschancen bereits in der Kindheit weitgehend entschieden wird, sollte man allerdings nicht nur mit Blick auf die Kinder aus tieferen sozialen Schichten thematisieren. Es strukturiert nämlich vor allem die Kindheiten in mittleren und höheren sozialen Schichten. Die Kinder lesen und musizieren häufiger, sind häufiger Mitglieder in Sportvereinen, unternehmen mehr Ausflüge mit ihren Eltern und teilen überhaupt mehr Freizeitbeschäftigungen mit den Eltern.

Deutlicher seltener nutzen sie öffentliche Spielplätze und sehen sie alleine fern. Ihre Kindheit ist ein reichhaltiges Programm und durch großen Einsatz der Eltern ermöglicht, ist aber stets auf Förderung und die Bildung zum kultivierten (erfolgreichen!) Erwachsenen ausgerichtet. Das lässt als Kehrseite zwei Dinge kaum zu: einen von Erwachsenen nicht eingesehenen Freiraum und die Möglichkeit, für die Familie durch Mithilfe aller Art nützlich zu sein und Anerkennung zu bekommen.

Kinder werden übergangen

Das öffentliche Interesse an Kindheit ist in den letzten Jahren gewachsen, aber der Blick auf Kinder ist "profitabel". Die Rede von dem, was "ein Kind braucht", suggeriert eine Eindeutigkeit und überindividuelle Geltung kindlicher Bedürfnislagen, die alle Kinder über einen Leisten schlägt. Dahinter können sich spezifische Interessen verbergen, über die sich jede Diskussion verbietet, wenn sie erst einmal als "Bedürfnisse des Kindes" ins Feld geführt wurden. Gemeint sind die Interessen von Vätern und Müttern, öffentliche Interessen an Humankapital, Interessen an einem professionellen Marktanteil für Experten, Profilierungsmöglichkeiten für Politiker. Dass daneben die Meinungen und individuellen Bedürfnisse der Kinder im konkreten Fall, in dem über sie entschieden wird - sei es im Umgang mit öffentlichen Institutionen, professionellen Helfern oder in Gerichtsverfahren -, viel zu wenig berücksichtigt werden, dass sich Kinder hier übergangen und missverstanden fühlen, sollte uns beunruhigen.

Doris Bühler-Niederberger lehrt Soziologie an der Universität Wuppertal und verfasste das 2005 erschienene Buch "Kindheit und die Ordnung der Verhältnisse" (Juventa Verlag).

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