Serie zur Leichtathletik-WM, Teil 3:Bilder zweier Deutschlands

Heike Drechsler hat die kritische Seite ihrer DDR-Sportkarriere lange beiseite geschoben - ihr Titel von 1993 in Stuttgart war trotzdem ein Beitrag zur Einheit.

Joachim Mölter

Das Publikum - natürlich! Das ist es, was am stärksten im Gedächtnis haften geblieben ist von den Weltmeisterschaften 1993 in Stuttgart. Nicht das Gefeilsche damaliger Größen, die erstmals Siegprämien vom Weltverband IAAF forderten und sich dann fürs erste mit einer kurzfristig bereitgestellten Limousine eines ortsansässigen Automobilherstellers zufrieden gaben. Nicht die Zahl der Weltrekorde, die bei keiner anderen Leichtathletik-WM erreicht worden ist, vier Stück. Auch nicht die chinesischen Läuferinnen des Trainers Ma Junren, "Mas Armee", wie sie genannt wurden, weil sie im Gleichschritt vorneweg marschierten, in einem Tempo, das sie angeblich dem Trank von Schildkrötenblut verdankten.

Serie zur Leichtathletik-WM, Teil 3: Heike Drechsler feiert ihren Sieg bei der WM 1993 in Stuttgart.

Heike Drechsler feiert ihren Sieg bei der WM 1993 in Stuttgart.

(Foto: Foto: dpa)

Das Publikum hat in diesen sonnigen Augusttagen alles in den Schatten gestellt. Täglich schwappten Wellen der Begeisterung durch das Gottlieb-Daimler-Stadion und ergossen sich nicht nur über die Sieger und auch nicht nur über die einheimischen Athleten. Damals zeichnete die Unesco - die Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur - die WM-Besucher symbolisch mit einem Fairplay-Preis aus. Noch heute gilt die Stuttgarter WM als stimmungsvollste, die es je gegeben hat. Von der Atmosphäre schwärmen selbst erfolgsgewohnte Athleten wie die Weitspringerin Heike Drechsler, die viel erlebt hat im Sport und alles erreicht, was man erreichen kann - Olympiasiege, WM- und EM-Titel, Weltrekorde.

Bittet man die heute 44-Jährige, für einen Moment die Augen zu schließen und einem spontan zu sagen, welche Bilder dann von dieser WM noch auftauchen, 16 Jahre danach, sagt sie, "das Publikum!", ohne mit der Wimper zu zucken.

Die Zuschauer schienen ihr damals näher an der Grube zu sitzen als sonst, sie begleiteten jeden ihrer Anläufe mit einem langgezogenen Schrei, und nachdem sie gewonnen hatte mit 7,11 Meter, riefen 50.000 Menschen im Stadion "Heike, Heike!", minutenlang. "So was hatte ich in der Form vorher nicht erlebt", sagt Heike Drechsler. Das war der Moment, in dem sie dachte: "Jetzt bist Du angekommen! Es geht nicht mehr um Ost oder West - jetzt bist Du gesamtdeutsch."

Als die Titelkämpfe in Stuttgart begannen, war Deutschland noch nicht lange wiedervereinigt, und es passte längst nicht alles zusammen, was zusammengehören sollte. Heike Drechsler, geboren in Gera, groß geworden in Jena und später nach Karlsruhe gezogen, kann viel von der Wende hierzulande erzählen, vielleicht mehr als jeder andere Sportler. Sie ist die einzige Leichtathletin, die für beide deutsche Staaten einen WM-Titel gewonnen hat: 1983 in Helsinki für die DDR und zehn Jahre später in Stuttgart für die Bundesrepublik. Und inmitten all ihrer Erfolge hängt sie den von 1993 "sehr hoch", auch heute noch.

"Ich war Teil dieses Systems"

Die Jahre nach der Wende waren zwar die sportlich besten ihrer Karriere gewesen - nach dem EM-Erfolg 1990 und dem Olympiasieg 1992 hielt sie mit dem WM-Gold von '93 gleichzeitig alle großen Titel; außerdem hatte sie im Olympiajahr ihre größten Weiten erzielt: 7,48 Meter unter regulären Bedingungen, 7,63 mit zu viel Rückenwind. Aber es war auch die schwierigste Zeit gewesen für sie. Die westdeutsche Öffentlichkeit ging hart ins Gericht mit den Hinterbliebenen und den Hinterlassenschaften der verblichenen DDR.

"Der Leistungssport war ein Teil des DDR-Systems gewesen", sagt Heike Drechsler, "und ich war auch ein Teil dieses Systems. Wir waren Diplomaten im Trainingsanzug gewesen und mussten uns viel anhören." In ihrem Fall waren das Doping-Vorwürfe, die für ihre Teenager-Jahre dokumentiert waren, von denen sie aber nichts hören wollte. Sie habe sich verschlossen, sagt sie, "weil ich damit nicht umgehen konnte. Ich habe mich versteckt in meinem Sport".

Ihr Sport, die Leichtathletik, der Weitsprung - daran habe immer ihr Herz gehangen. "Zu DDR-Zeiten hatte ich in vielen Bereichen die rosarote Brille auf", erklärt sie, "ich habe über manche Sachen gar nicht nachgedacht - ich dachte nur: Hauptsache, sie lassen mich in Ruhe meinen Sport machen." Nach der Wiedervereinigung dauerte es eine Weile, ehe sie in dieser Hinsicht ihre eigene, persönliche Wende vollzog. "Es ist natürlich einfacher, wenn man von außen sieht, was falsch ist, als wenn man selber tief drin ist in der Geschichte", sagt sie: "Man begreift vieles erst mal gar nicht und braucht Zeit und Abstand."

Auf der nächsten Seite: Was Heike Drechsler heute über das Sportsystem der DDR denkt und mit welchem Gefühl sie sich an die WM 1993 erinnert.

"Warum springt die immer noch so weit?"

Inzwischen hört man die Distanz heraus, die Heike Drechsler zu ihrer Vergangenheit gewonnen hat. Wenn sie von der DDR erzählt, sagt sie: "Ich war 'ne andere Heike zu der Zeit." Und sie verwendet oft das unpersönliche "man": man war, man hat, man konnte nicht, man musste. "Man hat wenig selbst entscheiden können", sagt sie zum Beispiel, und: "Man hatte nur einen Auftrag - seine Ziele zu erfüllen, zu gewinnen." Oder: "In der Mannschaft war man einer von vielen. Bestehen konnte man nur mit Leistung, sonst ist man untergegangen."

Selbst wenn sie von ihrer ersten WM berichtet, von 1983, als sie gewann mit 7,27 Meter, klingt sie nicht so triumphal wie man es erwartet, wenn eine 18-Jährige die Weltrekordlerin bezwingt, damals die Rumänin Anisoara Cusmir (7,43). Drechsler weiß noch, dass sie "ganz schön die Flatter" hatte, als sie zum ersten Mal in dieses große Stadion kam. Und dass sie eher erleichtert war, als es vorbei war: "Für mich war es eine Bestätigung, dass ich den Druck aushalten konnte in dieser Mannschaft. Da zählten ja leider immer nur Siege."

Heike Drechsler möchte nicht alles verdammen, was den Sport in der DDR betrifft; das Prinzip der Sportschulen zum Beispiel hält sie heute noch für sinnvoll als Ausbildungsweg für den Leistungssport. Aber "natürlich war es schlimm, dass in der DDR die Leute über Leichen gegangen sind, dass der Mensch wenig gezählt hat", sagt sie: "Als erstes war ja wichtig, den Klassenfeind zu schlagen, um jeden Preis. Und wenn man minderjährig war und mit Doping konfrontiert worden ist, ohne dass man es wusste oder dass es die Eltern wussten - das ist eine schlimme Sache." Man müsse ehrlich damit umgehen, findet sie heute, aber das ist etwas, was im 20. Jahr nach dem Mauerfall und kurz vor der nächsten Leichtathletik-WM in Deutschland noch immer nicht alle Beteiligten am Dopingsystem der DDR können oder wollen.

Dabei war es selbst für Laien schon bald offensichtlich, dass der Sport im Arbeiter- und Bauernstaat mit Zaubermitteln beackert worden sein musste. Nach dem Hinscheiden des staatlich gelenkten DDR-Systems war dessen sportliches Erbe ja schnell aufgebraucht. Bei der WM in Stuttgart gab es für die Deutschen nicht einmal halb so viele Medaillen (acht) wie noch zwei Jahre vorher in Tokio (17) und gerade mal ein Viertel so viel wie 1987 in Rom für die DDR allein (32).

Heike Drechsler weiß, dass aufgrund dieser rückläufigen Entwicklung viele Beobachter aus dem Westen nach der Wende skeptisch waren ihr gegenüber: "Warum springt die immer noch so weit?"

Den Anfang der neunziger Jahre empfand sie daher als einen "Kampf um Anerkennung: Dass auch ein Ostsportler unter Westbedingungen noch seine Leistungen abrufen kann". Und die WM 1993 in Stuttgart war eine Gelegenheit, zu zeigen: "Ich komm' zwar aus dem Osten, aber ich bin gesamtdeutsch." Es ging also seinerzeit nicht nur darum, Medaillen zu sammeln - es ging um viel, viel mehr: ein Stück Einheit herzustellen.

Es wuchs etwas zusammen

Das Stuttgarter Publikum hat damals seinen Teil beigetragen, indem es für eine positive Stimmung sorgte, auch wenn die gewohnten Erfolge fehlten. Die Chronisten schrieben jedenfalls, dass die Gräben zwischen Ost- und West-Athleten innerhalb des deutschen Teams zugeschüttet waren, zumindest waren sie nicht mehr so tief. Es wuchs etwas zusammen.

Auch Heike Drechsler verband die Fäden ihrer Karriere, sie knüpfte an ihren WM-Titel von 1983 an und auch an ihre EM-Erfolge von 1986 in Stuttgart. Da gewann sie im Weitsprung und über 200 Meter, und schon damals jubelte ihr das Publikum zu. "Aber es war einfach so anders", erinnert sie sich an 1986, "man konnte es nicht so genießen." Sie war ein Kind der DDR, ängstlich, eingeschüchtert: "Und jetzt komme ich hier in den Westen - auweia!"

1993 kam sie mit einem ganz anderen Gefühl zurück nach Stuttgart, reifer, entspannter. Natürlich habe sie auch Druck gespürt vor dieser WM, sagt sie, zumal sie ja als Olympiasiegerin antrat, aber es war ein anderer Druck als zu DDR-Zeiten: "1993 war ich selbst verantwortlich für das, was ich tue." Sie genoss es, sich von der Welle der Begeisterung tragen zu lassen, die ihr eiskalt den Rücken hinunterlief, ehe sie verebbte. "Da kriegt man schon Gänsehaut", erinnert sie sich, die Augen offen, aber den Blick ins Innere gekehrt, als schaute sie sich dort die Bilder von einst noch einmal an: "Das sind Erlebnisse, die hat man ewig im Kopf", sagt sie, "weil man weiß, dass sie vergänglich sind."

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