Buchpreis für "Europa erfindet die Zigeuner":Leute, auf die man sofort Feuer geben darf

Literaturpreis für Bogdal

Der Literaturwissenschaftler Klaus-Michael Bogdal wird für "Europa erfindet die Zigeuner" bei der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.

(Foto: dpa)

Warum scheint in so vielen europäischen Ländern ein Zusammenleben mit Angehörigen der Romvölker undenkbar? Woher die Angst? Für seine Analyse dieser Fragen erhält Klaus-Michael Bogdal nun den Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung - dem Leser bereitet er eine schwer erträgliche Erfahrung.

Von Jens Bisky

Nach dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen 1992 interviewte der Stern eine sechzehnjährige Schülerin, die sich eifrig an der Jagd auf Asylbewerber und vietnamesische Vertragsarbeiter beteiligt hatte. Sie hielt mit ihren Ressentiments nicht hinterm Berg: "Wären Zigeuner verbrannt, hätte es mich nicht gestört. - Vietnamesen schon, aber Sinti und Roma egal."

Der Literaturwissenschaftler Klaus-Michael Bogdal, der sich 1992 gerade habilitiert hatte, war damals zu einer Veranstaltung über fremdenfeindliche Gewalt eingeladen worden. Die hilflose Öffentlichkeit verlangte nach Erklärungen. Während der Vorbereitung stieß er auch auf die selbstbewusst-inhumane Bemerkung der Schülerin. Diesen "Furor der Verachtung" habe er nicht vergessen können. 1989/90 hatten die Gipsy Kings ("Zigeunerkönige") mit ihrem Flamenco Pop Gold und Platin in fünfzehn Ländern gewonnen. Allein in Deutschland wurde ihr Debütalbum gut 500.000 mal verkauft. Faszination und Verachtung konnten offenbar gut nebeneinander bestehen. Warum?

Warum scheint in so vielen europäischen Ländern ein Zusammenleben mit Angehörigen der Romvölker undenkbar? Woher die Angst? Wie ist die furchterregende Zähigkeit der Klischees, Ressentiments und kenntnislosen Zuschreibungen zu erklären? Ist der Antiziganismus der kleine Bruder des Antisemitismus? Klaus-Michael Bogdal, 1948 in Gelsenkirchen geboren, nach dem Studium in Bochum lange Zeit Lehrer in Dortmund, seit 2002 Professor für Neue deutsche Literatur in Bielefeld, hat diesen Fragen eine umfangreiche Studie gewidmet: "Europa erfindet die Zigeuner" (Eine Geschichte von Faszination und Verachtung. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, 590 Seiten, 24,90 Euro).

Unerschöpflicher Vorrat nationaler Stereotypen

Für dieses Buch wird Bogdal an diesem Mittwoch während der feierlichen Buchmessen-Eröffnung im Leipziger Gewandhaus mit dem Buchpreis zur europäischen Verständigung ausgezeichnet. Sehr zu Recht. Die Jury-Entscheidungen der letzten Jahre kann man als Kommentar zur aktuellen Krise des Europa-Projekts verstehen, dem leere Visionen und Schönrednerei ebenso schaden wie Unkenntnis, der unerschöpfliche Vorrat nationaler Stereotypen und Furcht. Im Licht der Bücher, die in Leipzig ausgezeichnet worden sind - etwa Karl Schlögels Buch über Moskau 1937, Ian Kershaws "Das Ende" oder Timothy Snyders "Bloodlands" - erscheint Europa als Kontinent der unerzählten Geschichten und der ungelösten, nationalstaatlich nicht zu lösenden Probleme.

Etwa zehn Millionen Sinti und Roma leben in Europa, zum Teil unter elenden Bedingungen, vielerorts werden sie ausgegrenzt, diskriminiert, nicht als Individuen und Rechtssubjekte behandelt. "Die Roma kommen: Raubzüge in die Schweiz - Familienbetrieb des Verbrechens" hat die Weltwoche im vergangenen Jahr getitelt, als sei es ihre Absicht, eine sachliche Verhandlung der tatsächlichen Probleme durch Stimmungsmache zu verhindern. Die Roma sind gut sechshundert Jahre schon da.

"Sie niederzuschießen, zu hauen und zu schlagen"

Klaus-Michael Bogdal beginnt seine Studie mit einer Seite aus der Spiezer Chronik Diebold Schillings des Älteren (um 1445-1486). Man sieht das gut befestigte Bern und davor eine Gruppe eng beieinander stehender Menschen in irgendwie orientalisch aussehender Bekleidung: "von den swartzen getouften haiden die miteinander gen Bernn kument". Im 15. Jahrhundert waren sie da, Fremde, auf die man sich einen Reim machen musste. Man nannte sie Egyptier, Tataren, Ziganer, erdichtete verschiedene Herkunftslegenden. Sind sie Nachkommen Kains? Haben sie der Heiligen Familie auf der Flucht nach Ägypten die Unterkunft verweigert? Sie haben kein Territorium und keinen sozialen Ort, man schlägt sie kollektiv den Bettlern, Räubern, den Ehrlosen zu.

Bogdal mustert Chroniken und Verordnungen, Lexika, Erzählungen, Dramen, Gedichte. Je größer die Fortschritte Europas auf dem Weg in die Moderne, desto größer der Abstand zu den "Fremden", die bald als unvereinbar Andere, eine unverständliche Bedrohung erscheinen, gegen die jedes Mittel recht ist. Ein Mandat aus Nassau-Diez gestattet jedem Einwohner, "auf dieselbe alsofort Feuer zu geben, sie niederzuschießen, zu hauen und zu schlagen" - ohne mit Strafe rechnen zu müssen.

Daneben entwickelt sich die Zigeunerromantik, von Cervantes' exemplarischer Novelle "La gitanilla" bis hin zu Victor Hugos Esmeralda und Prosper Mérimées Carmen. Alexander Puschkin imaginiert in seinem Poem "Die Zigeuner" (1827) eine "erstrebenswerte Gesellschaftsordnung an den Rändern Europas".

Dieses Buch über die "Erfindung der Zigeuner" bereitet dem Leser eine schwer erträgliche Erfahrung. Selbst dort, wo die Zigeuner nicht verachtet, abgewertet werden, lernt man die wirklichen Menschen hinter den Zerrbildern nicht kennen, sie selbst, über die in Bogdals Quellen ständig geredet wird, kommen nicht zu Wort. Das liegt auch daran, dass ihre Sprache erst im 18. Jahrhundert "entdeckt" wird, dass aus ihrer mündlichen Kultur Zeugnisse weitgehend fehlen.

Ausufernd materialreich

Erst nach dem Völkermord an den Zigeunern, in autobiografischen Texten, ändert sich das. Der Antiziganismus äußert sich allerdings auch nach Auschwitz mit großer, unverschämter Unbefangenheit. Es braucht Jahrzehnte und energische Proteste der Sinti und Roma, bis sie als Opfer der NS-Vernichtungspolitik anerkannt werden. Das Berliner Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma ist vor Kurzem erst, im Oktober des vergangenen Jahres, eingeweiht worden.

Hinter die Erkenntnisse dieses ausufernd materialreichen Buches kann nun keiner mehr zurück. Man lernt daraus einen richtigen Ekel vor Diskussionen über "Fremde", "Andere", in denen diese selber nicht zu Wort kommen. Und man möchte allen, die über Zigeuner reden, "Levins Mühle" (1964) von Johannes Bobrowski in die Hand drücken: "Richtige Zigeuner sind richtig schön. Das ist wahr, ich sage es, wie es ist. Beschreiben allerdings kann man Zigeuner nicht. Wanderer, kennst du sie nicht, so lerne sie kennen, habe ich an einer Kirchenwand gelesen, an einer Außenwand, wo es zum Gedächtnis einer Verstorbenen angeschrieben war. Wie mit dieser Verstorbenen, so steht es auch mit den Zigeunern, sie sind tot. Zusammengetrieben und erschlagen in jenen Jahren, an die wir uns erinnern, in jenen Gegenden, von denen hier erzählt wird. (. . .) Wer jetzt sagt, ich kenne welche, der denkt sich das bloß, der weiß nicht, was er redet, der meint die drei schwarzhaarigen Männer, einen dünnen und zwei dicke, die im Kaffeehaus Musik machen und all das tun, was man (nur so als Mensch) vom Zigeuner erwartet: Umhergehn mit weichen Gelenken, biegsamen Hüften, sanft durchdringendem Blick, einer Geige, die ein bisschen verölt klingt und auf der es offenbar keine richtige Mittellage gibt, das bekannte Zimbal dazu. Das meine ich alles nicht, ich meine Zigeuner, die man nicht beschreiben kann."

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