Buch "Antifragilität" von Nassim Taleb:Sokrates hätte ein "Like" kassiert

Antifragilität Nassim Taleb

Als alle auf das Erwartbare wetteten, setzte Nassim Nicholas Taleb auf das Unwahrscheinliche - und wurde damit reich.

(Foto: REUTERS)

Nassim Taleb weiß, dass er nichts weiß - das weiß er seiner Meinung nach allerdings deutlich besser als alle anderen. Außerdem hasst er viele Dinge und Menschen. Mit "Antifragilität" liefert er nun ganz unbescheiden eine Theorie von allem. Ein größenwahnsinniges - aber auch irgendwie großartiges Buch.

Von Jan Füchtjohann

Sein erstes großes Buch stand 36 Wochen auf der Bestsellerliste der New York Times, wurde in 32 Sprachen übersetzt und drei Millionen mal verkauft. Seitdem lehrt er in Oxford und New York, schreibt Aphorismen, hält Vorträge und erklärt, wen und was er alles hasst: den Wirtschaftsnobelpreis, Banker, Sonnencreme, Klimaanlagen, Nerds, Journalisten, Paul Krugman, Eliteuniversitäten, normale Schuhe, Google News, Krawatten, Ritalin, Marketing, Tüddelmamis und die Sozialwissenschaften.

Außerdem phantasiert er darüber, wie herrlich es wäre, berühmte Ökonomen öffentlich zu verprügeln. Die moderne Medizin, sagt er, hat überhaupt nichts zur Verlängerung des Lebens beigetragen. Danach gibt er dann noch ein paar Fitnesstipps (tragen Sie sehr schwere Gewichte auf dem Kopf) und Diäthinweise (essen sie nur Früchte mit altgriechischen oder hebräischen Namen - es sei denn, Sie haben Lust auf Tiramisu).

Kein Wunder, dass der britische Premierminister ihn als Berater schätzt und der Verlag dem "heißesten Denker der Welt" (The Sunday Times) für sein neues Buch gleich 4 Millionen Dollar vorgeschossen hat.

"Antifragilität" - ein irrsinniger Titel

Der Maniker, um den es geht, heißt Nassim Nicholas Taleb, und sein Opus Magnum mit dem Titel "Antifragilität" ist in diesen Tagen auf Deutsch erschienen. Es ist, ganz unbescheiden, eine Theorie von allem. Und doch keine Weltformel, weil die Welt ja unverständlich ist und daher auch Nassim Taleb nur weiß, dass er nichts weiß - das weiß er seiner Meinung nach allerdings deutlich besser als alle anderen.

Wie kommt einer dazu, ein derart größenwahnsinniges - und, das sei hier schon mal gesagt - auch irgendwie großartiges Buch zu schreiben? 688 Seiten! Plus weitere Info auf fooledbyrandomness.com! Inklusive frei erfundener "sokratischer" Dialoge mit Fat Tony aus Brooklyn. Und dann dieser obskure Titel: "Antifragilität" - ein Irrsinn.

Um diesen Irrsinn verstehen zu können, muss man den Autor in der schlimmsten Phase seines Lebens sehen: zwischen 2004 und 2008. Damals war Taleb Hedgefonds-Manager. Es war die große Zeit der Wall-Street-Superhirne und des Versprechens, mit genügend mathematischer Intelligenz und ausgefeilten neuen Finanzinstrumenten ließe sich jede Eventualität erfassen, berechnen und versichern. Letztlich bedeutet "Hedge"-Fond genau das: Dass man die schützende "Hecke" des eigenen Anwesens sogar um die Zukunft pflanzen kann - meine Villa, mein Garten, mein Überübermorgen.

Mehrals nur ein Maulheld

Taleb konterte mit einer auf den ersten Blick etwas naseweisen Pointe: Ja sicher, sagte er, man kann alles vorhersehen - außer dem Unvorhersehbaren. Als Beleg zitierte er ein Beispiel des Philosophen Karl Popper: Sie können ihr Leben lang immer nur weißen Schwänen begegnet sein. Das heißt aber noch lange nicht, dass es nicht doch irgendwo einen schwarzen gibt.

Weil Taleb aber mehr war als nur ein Maulheld, hatte er seinen großen Worten auch Scheine folgen lassen und Geld auf die Existenz eines "schwarzen Schwans" gesetzt - viel Geld. Dabei brach er nebenbei mit einer der wenigen wichtigen Konventionen der Wall Street: Verliere niemals Geld - schon gar nicht über lange Zeit.

"Die Finanzwelt hasste mich leidenschaftlich"

Die meisten Trader leben von einer Serie vergleichsweise kleiner Wetten auf die Zukunft: Sie erwarten zum Beispiel, dass eine Aktie morgen ein bisschen mehr wert ist als heute. Setzen sie auf diese Erwartung und behalten recht, machen sie einen Profit, sonst nicht. Das Tolle an dieser Methode ist, dass man bei jedem Börsenschluss weiß, wo man steht: 100.000 im Plus oder 10.000 im Minus. Wobei einmal Minus als Pech gilt, zehnmal als Pechsträhne, und hundertmal als: Suchen Sie sich einen neuen Job.

Wer bleibt, wird ständig ein kleines bisschen reicher. Zumindest normalerweise; sobald nämlich etwas Unvorhergesehenes geschieht, kann man plötzlich eine Menge Geld verlieren. Talebs Anlagestrategie funktionierte genau andersherum: Er wettete jeden Tag darauf, heute einem schwarzen Schwan zu begegnen - also einem unerwarteten Ereignis, das das Börsenbarometer drastisch zum Ausschlagen bringt.

Es fühlte sich an, als würde er ganz langsam ausbluten

Weil das so selten vorkommt, konnte man sich mithilfe sogenannter "Options" für wenig Geld gegen solche Schwankungen "versichern". Passierte nichts, verlor man seine "Prämie"; geschah aber doch mal etwas, war die Belohnung potenziell riesig.

Anstatt also jeden Tag ein bisschen zu gewinnen und dabei das geringe Risiko hinzunehmen, eines Tages vielleicht eine Menge zu verlieren, war Taleb bereit, jeden Tag ein bisschen zu verlieren - für die geringe Aussicht, eines Tages vielleicht eine Menge zu gewinnen.

Das Magazin The New Yorker hat vor über zehn Jahren in einem Porträt beschrieben, wie grausam diese Strategie war. Taleb verlor jeden Tag einige Hunderttausend Dollar. Mal hatte er bis zum Abend 85 Prozent seines Einsatzes zurückgewonnen, mal 84 Prozent, mal sogar nur 65. Es fühlte sich an, als würde er ganz langsam ausbluten. Wer gegen ihn wettete, wurde jeden Tag ein bisschen reicher, er selbst jeden Tag ein bisschen ärmer.

Es muss die Hölle gewesen sein

Taleb entwickelte nervöse Tics, hörte nur noch bestimmte Komponisten, parkte immer auf dem selben Parkplatz, brauchte dringend einen bestimmten Kollegen an seiner Seite, aß nur noch diese und jene Nahrung . . . Es muss die Hölle gewesen sein.

Und das war vor den Büchern und Vorträgen. Richtig unerträglich wurde es, als Taleb 2001 per Buch fast die gesamte Wall Street als "Narren des Zufalls" bezeichnete. 2007 legte er nach und veröffentlichte "Der schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse". Er sagte später über diese Zeit: "Die Finanzwelt hasste mich leidenschaftlich, alle dachten, ich sei ein Idiot." Dabei gab ihnen jeder Blick auf seinen Computer recht: Wieder 300.000 weniger. Und wieder. Und wieder.

Um das auszuhalten, braucht man einen nahezu unerschütterlichen Glauben an sich selbst. Wer in so einer Lage nicht davon überzeugt ist, alles richtig zu machen, wird weich und knickt irgendwann ein. Man blutet, wird beschimpft: Wer hält so etwas schon lange aus? Doch Taleb blieb bei seiner Strategie.

Triumphierend und ein bisschen übergeschnappt

Wenige Monate später erklärte die Investmentbank Lehman Brothers ihren Bankrott, und es begann eine weltweite Finanzkrise. Nassim Nicholas Taleb jedoch war auf einen Schlag reich, sehr reich. - Wie sich das wohl angefühlt hat?

Vielleicht ein bisschen so, als hätte Galilei den Papst auf der Straße getroffen, als der gerade zerknirscht aus der Sternwarte kam. Oder als hätte Kolumbus nach vielen Wochen auf See endlich Land gesehen - und dafür von Isabella von Kastilien sofort ein "Like" kassiert. Alle hatten unrecht. Ich hatte recht. Und habe nie wieder Geldsorgen.

Genauso liest sich das Buch "Antifragilität": Triumphierend, ein bisschen übergeschnappt, und immer noch sauer: Hier, ihr "Experten", das ist mein Stinkefinger. Nassim Nicholas Taleb ärgert sich, weil er zwar recht behalten hat, seine Erkenntnisse sich aber trotzdem nicht durchgesetzt haben. Das Finanzsystem ist immer noch viel zu mächtig: Anstatt auf überschaubare Größe zu schrumpfen, sind die Banken noch größer und mächtiger geworden.

Das System hat vorgeführt, wie fragil es ist

Dabei tragen die entscheidenden Spieler immer noch keine Verantwortung: Wenn sie ihre Wetten verlieren, springt der Steuerzahler für sie ein. Außerdem ist das Finanzsystem immer noch zu verknüpft: Es genügt der Untergang einer einzigen Bank, um alle in den Abgrund zu reißen. Das System hat dramatisch vorgeführt, wie fragil es ist - und doch geschieht nichts, um daraus zu lernen und seine "Antifragilität" zu erhöhen.

Dabei zeigt die Natur, wie es geht: mit Redundanz. Menschen haben zwei Nieren, damit eine ausfallen kann. Ein Staat besteht aus vielen Ameisen, sodass manche sterben können. Überhaupt ist die Natur so eingerichtet, dass jeder Brand, jede Trockenheit und jede Epidemie sie am Ende fitter macht. In diesem evolutionären Sinne ist "Antifragilität" sogar mehr als Robustheit oder Resilienz; sie hält Schläge nicht nur aus, sie wird durch sie stärker.

Grandioser Irrsinn

Interessant ist dabei, dass der Professor für "Risk Engineering" solche Antworten weniger in mathematischen Finten findet als in der klassischen Philosophie - allen voran bei dem von ihm verehrten Stoiker Seneca. Den vielen Intellektuellen, die in jüngster Zeit versucht haben, die Finanzwirtschaft mit geistesgeschichtlichen Mitteln verständlich zu machen - etwa Joseph Vogl, Frank Schirrmacher oder Slavoj Žižek -, kommt Taleb damit entgegen: Er tritt direkt aus dem Auge des Sturms und übersetzt seine Erfahrungen jetzt in Philosophie.

Wie sich das liest, zeigt am besten vielleicht die Kurzbeschreibung des 15. von 25 Kapiteln: "Die Geschichte der Technik wird neu geschrieben. In der Wissenschaft wird Geschichte von Losern verfasst; eine Erkenntnis, die mir in meinem Tätigkeitsbereich aufging, und wie man diese Einsicht generalisieren kann. Schaden Kenntnisse in Biologie der Medizin? Die Rolle glücklicher Zufälle wird unterschlagen. Wodurch zeichnet sich ein guter Unternehmer aus?"

Grandioser Irrsinn also. Der Loser, der das verfasst hat, wird am Ende wohl wieder richtig absahnen.

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